Japan, die Kernkraft und das Meer

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Seit dem 11. März ist uns Japan, dieses ferne Land, das uns immer wieder zu überraschen vermag, nähergerückt – seit dem Tag, an dem drei Naturgewalten das Inselreich gleichzeitig angriffen, zwei davon, Erdbeben und Tsunami, plötzlich und mit elementarer Gewalt, die dritte, die scheinbar gebändigte Kernenergie, allmählich wirkend, mit den Sinnen nicht wahrnehmbar und in ihrer Unerschöpflichkeit verstörend grausam.
Seit dem 11. März sind uns die betroffenen Japaner in unzähligen Bildern und Berichten vor Augen gestellt worden – in ihren vielerlei Nöten, in ihrem umfassenden Leid. Die Nähe, erzeugt von der Effektivität der Medien und unserer eigenen Empathie, hat auch einiges von dem aufgerufen, was uns an Japan erstaunlich geblieben ist. So sind wir berührt und betroffen von der Art und Weise, wie sie auf das Unheil reagieren, von ihrer Haltung in der Katastrophe. Bestimmte Merkmale davon werden in den Kommentaren zu den Bildern besonders hervorgehoben: die äußere Ruhe, Gefasstheit, ja scheinbare Unerschütterlichkeit in der Beherrschung ihrer Gestik und Mimik. Das Wort, mit dem diese Haltung von den europäischen Kommentatoren häufig bezeichnet wird, ist „stoisch“.
Umso bestürzender wirkt es, wenn wir einen Japaner dabei beobachten können, wie er seine Fassung verliert. Kürzlich konnte man in einem Fernsehspot einen Mann sehen, einen Mitarbeiter des Atomkraftwerks Fukushima, der daran beteiligt gewesen war, hochgradig verstrahltes Wasser ins Meer abzulassen – und der bei der bloßen Erwähnung dieses Vorgangs, der absichtsvollen Verseuchung des Meeres, in Tränen ausbrach. Die heftige, nicht mehr beherrschbare Erschütterung wurde offenbar von einem Gefühl ausgelöst, das umfassender war als individuelles Leid. Eine Emotion drang durch, die einen bedeutsamen Zusammenhang in der Natur- und Welterfahrung der Japaner offenbar machte: ihr Verhältnis zum Wasser, dem Element, das ihr Land rings umgibt und ihr Leben in allen seinen Aspekten prägt, als Nahrungsquelle, Beförderungsweg, Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt usf.

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Von den frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an konnte man an den japanischen Küsten einen verblüffenden, unvermittelt einsetzenden Vorgang beobachten: Die Küstenbereiche, zumal die Sandstrände, wurden gereinigt. Das war in der Tat notwendig, denn Plastikabfälle, weggeworfenes Kinderspielzeug, überflüssig gewordenes Verpackungsmaterial, abgenutzte Haushaltsgegenstände usf. hatten die Küsten verunstaltet, das Baden nahezu unmöglich gemacht. Aber auch das Meer in Küstennähe, zumal in der Japanischen Inlandsee (Setonaikai) zwischen Honshu, Shikoku und Kyushu war betroffen, ganze Müllinseln hatten sich gebildet, die das Fischen behinderten und den zu Schiff Reisenden beklommen machten..
Darauf wurde nun ruckartig reagiert. Nicht nur kommunale Arbeitskräfte kamen in der Müllbeseitigung zum Einsatz, ganze Schulen wurden klassenweise dazu abgestellt. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen hatte dabei eine doppelte Funktion, eine fällige Arbeit wurde geleistet, und zugleich fand eine Umerziehung statt: Das Meer sollte künftig nicht mehr als Entsorgungsbereich gesehen werden, sondern als Teil des Lebensraums, für dessen Sauberkeit man aktiv sorgen müsse. Überraschend schnell gelang es, das Problem, als es erst einmal erkannt war, zu lösen. Zentralistische Strukturen nicht nur im Bildungssystem, sondern in der Organisation der Gesellschaft allgemein sowie die Bereitschaft und Fähigkeit der Einzelnen zu kooperieren, machten es möglich, der Verschmutzung von Meer und Strand innerhalb weniger Jahre Herr zu werden.
Blieb die Frage, wie es denn überhaupt zu einem derartigen ‚Missbrauch‘ des Meeres ausgerechnet an Japans Küsten hatte kommen können.
Die Antworten, die wir damals erhielten, waren zögernd, vorsichtig und irgendwie maskiert: „Wir sind es gewohnt, alles Überflüssige, ins Meer zu werfen“, „Das Meer kann alles in sich aufnehmen“, „Das Meer verschmutzt nicht“. Offenbar empfand man das Meer, das ‚grenzenlose Wasser‘, als das Element, das im national-kulturellen Alltag seit eh und je die Funktion und Fähigkeit hatte, das Unerwünschte zu ent-sorgen. Darin war die Überzeugung eingegangen, dass etwas, das die Kraft der Reinigung in sich trage, nicht selbst verschmutzen könne. Diese Annahmen hatten die ganze bisherige Geschichtszeit hindurch getragen. Solange der Abfall sich in Grenzen hielt, solange es sich um natürliche Materialien handelte, die in natürlichen Zeiträumen verrotteten, hatte es mit diesem Verständnis des Meeres kein Problem gegeben; erst mit dem Beginn des Wegwerfzeitalters auch in Japan, mit dem Aufkommen von Kunststoffen, deren ‚Verfallsdauer‘ im Meer entscheidend verlängert war, hatte die Situation sich verändert.
Der mythische Untergrund dieser Einschätzung des Wassers erschloß sich mir aus einem ganz anderen Erfahrungszusammenhang und in einem anderen Gesprächsrahmen – zufällig.
In einer Lehrveranstaltung an einer deutschen Universität, an der StudentInnen aus verschiedenen Nationen und Erdteilen teilnahmen und die darauf angelegt war, kulturbedingte Leseunterschiede hervortreten zu lassen, ging es eines Tages auch um Franz Kafkas berühmte Erzählung „Das Urteil“, in der ein Vater seinen Sohn „zum Tod durch Ertrinken“ verurteilt. Die StudentInnen hatten sich ihrer Herkunft nach in Untergruppen aufgeteilt, um die ‚Bedeutung‘ dieses monströsen Urteilsspruches zu erörtern. Die europäischen Gruppen deuteten ihn aus der Biographie des Autors, zitierten Franz Kafkas „Brief an den Vater“ als Ausdruck eines realen Familienkonflikts oder bezogen sich auf Sigmund Freuds Hypothesen zur Tiefenpsychologie. Ganz anders die Japaner in ihrer Teilgruppe. Wie alle anderen außereuropäischen StudentInnen vermieden auch sie es, das „Urteil“ des Vaters wörtlich zu nehmen – aus einem Verständnis der Vaterrolle heraus, die eine reale ‚Verurteilung‘ des Sohnes ausschließt. Das Spezifische ihrer Deutung ergab sich aus dem Verständnis des Elementes „Wasser“. Ihre Deutungsvariante besagte, dass der Tod des Sohnes eigentlich ein Akt der Versöhnung sei. Dem Vater komme dabei die Rolle des Mittlers zu, der dem Sohn den Zugang zum „Ganzen“ eröffne. Der Ausdruck „Tod durch Ertrinken“ verweise auf das Element des Wassers, dem die Funktion der ‚Reinigung‘ zukomme – als Voraussetzung zur Wiedergeburt, und das zugleich „das Ganze“ symbolisiere. In diesen Annahmen lassen sich unschwer Traditionslinien japanischer Kulturgeschichte erkennen, in denen Konfuzianismus, Shintoismus und Buddhismus sich verschränken.

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In der Berichterstattung über die japanische Katastrophe, die sich mit dem Datum des 11. März verbindet, hat sich mir noch eine weitere von den Medien übermittelte Szene eingeprägt – auch diese deshalb, weil darin eine aus dem Üblichen und Typischen herausfallende Verhaltensweise sichtbar wird: der Versuch eines jungen Mannes, der mit einem Megaphon in der Hand vor dem Hauptquartier der Tepco steht, der Betreiberfirma auch des Kernkraftwerkes Fukushima, und seine Landleute zum „demonstrativen Protest“ zu bewegen versucht. Er müht sich, er schreit, er erregt sich. Mit wenig Erfolg. Etwa 100 Individuen hat er heute in ihren Alltagsroutinen aufhalten und zu einer Art schweigenden Demonstration vereinen können – was, wie er dem europäischen Berichterstatter aufwendig versichert, für Japan „schon sehr viel sei“.
Nun ist es nicht so, dass den Japanern das Protesthandeln völlig fernliegt. Der rituelle Selbstmord (seppuku) hat etwas davon – er ist die letzte Möglichkeit eines Einzelnen (oder eines Kollektivs), sein Nicht-Einverstandensein zu demonstrieren und seine Integrität („Ehre“) zu retten. Ich selbst habe gegen Ende des letzten Jahrhunderts ungemein dynamische, im Laufschritt vollzogene Demonstrationen des Japanischen Studentenverbandes (sengakuren) erlebt, in denen die von der Regierung verfolgte Politik vehement in Frage gestellt wurde. Freilich richteten diese Proteste, an denen Zehntausende von Studenten in ihren schwarzen Studentenuniformen teilnahmen, sich nicht so sehr gegen die Regierung selbst, sondern gegen die Stationierung amerikanischer Truppen auf dem Archipel. Eine dieser Demonstrationen des sengakuren zielte auf den Besuch des amerikanischen Flugzeugträgers Enterprise und die rhythmisch geschärften Rufe „hantai Enterprise!“ („Gegen die Enterprise!“) hallen mir noch immer in den Ohren. Die Demonstranten protestierten damit vordergründig – auch – gegen ihre eigene Regierung, vertraten aber im Kern ihres Engagements nicht mehr und nicht weniger als die japanische Eigenstaatlichkeit und nationale Identität. Außerdem waren die Studenten, die da in ihren schwarzen Uniformen und den weißen Binden um die Stirn durch die Straßen liefen, nicht als Einzelne, sondern als Mitglieder einer Organisation, eines „Studenten-Bundes“ gekommen, sie konnten sich von Anfang an als Mitglieder eines Kollektivs erleben.
Hier liegt ein Unterschied, der festzuhalten ist: Zu einer Demonstration gegen die Art und Weise, wie in Japan heute die Kernkraft kommerzialisiert wird, müssten sich lauter Einzelne und aus je individuellem Entschluss heraus zusammenfinden. Die Schwelle, die dabei zu überwinden wäre: Eine bereits angebahnte, selbst bereits als Kollektiv wirkende Anti-Atomkraft-Bewegung gibt es in Japan (noch) nicht.
Trotzdem, Anlass zu demonstrativem Protest gegen die Atomindustrie, gegen das Funktionieren ihrer Lobby und gegen die Bereitschaft der japanischen Regierung, sich von der Lobby dieser Großtechnologie korrumpieren zu lassen, gäbe es jetzt, angesichts der katastrophalen Havarie in Fukushima, mehr als genug. Was nicht nur ausländische Beobachter des Geschehens um Fukushima, sondern auch viele einzelne Japaner zuallererst befremdete, war die taktierend perfide Informationspolitik von Tepco einerseits, der japanischen Regierung andererseits, die nur ein – gemeinsames – Ziel zu haben schienen: ihre Landsleute so verzögert und so ungenau wie möglich über das Ausmaß der Havarie zu unterrichten. Angebote aus den USA und Europa mit dem Sachverstand und der Erfahrung ihrer jeweiligen Experten Beistand zu leisten, wurden lange zurückgewiesen, möglicherweise auch deswegen, um den Ausgangszustand der Atommeiler vor Eintreten der Havarie nicht offen zu legen. Trotzdem sind in den Wochen, die seit dem 11. März vergangen sind, immer neue Details über Versäumnisse und Verfehlungen ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, mitgeteilt von ehemaligen Mitarbeitern von Tepco, von ehemaligen Kontrolleuren der Kraftwerke und sogar von Regierungsbeamten – nicht aus dem Bereich der Zentralregierung, aber von Provinzgouverneuren, in deren Zuständigkeitsbereich sich Atommeiler befanden. Was inzwischen außer Zweifel steht, ist, dass es bei der Wartung, Kontrolle und Nachrüstung der Kernkraftanlagen zu erheblichen Unterlassungen und Verfehlungen gekommen ist. Um dem Konzern Kosten zu ersparen, haben Betriebsleitung, Kontrollinstanz und Regierung kollaboriert. Feststeht außerdem, dass die Risiken, zumal des Fukushima-Standorts unterschätzt bzw. wissentlich heruntergespielt, fällige Reparaturen und Verbesserungen unterlassen wurden. Wie sich im Rückblick zeigt, sind Japans Atomanlagen nicht so verlässlich gebaut und nicht so verantwortungsvoll geführt, wie die beiden zuständigen und ineinander verstrickten Instanzen, Regierung und Betreiber, es haben erscheinen lassen. Dazu zitiert DER SPIEGEL den britischen Nuklearexperten Shaun Burnie, der die Anlage Fukushima „mehrfach besichtigt und auch immer wieder in Japan gearbeitet hat“. Das Fazit: „Block eins und zwei in Fukushima Daiichi sind Anfang der siebziger Jahre in Betrieb gegangen, mit wesentlich laxeren Sicherheitsstandards, als es heute üblich ist. Sie stammen aus einer Zeit, als VW den Käfer baute, ohne Sicherheitsgurte, Airbags und Kopfstützen.“ (11, 2011, 132)
Bleibt die Frage, warum die japanische Öffentlichkeit den immer weiteren Ausbau der Atomenergie im eigenen Land mit dieser für uns Europäer erstaunlichen, ja bestürzenden Passivität hat geschehen lassen – und das trotz der Tatsache, dass Japan als erstes Land der Welt auf ganz und gar „unfriedliche“ Weise von der Kernenergie betroffen worden ist.
Sicher, auch hier mag das Naturbild Japans eine Rolle spielen, wie es sich in langer und kontinuierlicher Tradition herausgebildet hat, und das eine generelle Skepsis der Technologie gegenüber nicht nahe legt; die Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie wird in Japan nicht so scharf gezeichnet wie in Europa, der Mensch beansprucht keine Sonderstellung in der einen, alles umfassenden Naturwelt, im Gegenteil, er wünscht, darin eingebettet zu sein und zu bleiben – in dem großen Ganzen, zu dem auch die Atomenergie und deren nicht nur unvermeidliche, sondern gleichsam fällige Nutzung gehören.
Aber ist diese Einstellung angesichts der aktuellen Ereignisse haltbar? Geht es bei der Bereitschaft/Nichtbereitschaft, gegen die manifest gewordene Bedrohung durch die Kernenergie zu protestieren, nicht um etwas anderes als ein bestimmtes – in diesem Fall mythisch-mystisches – Verhältnis zur Natur?

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Kommen wir noch einmal auf das Wort „stoisch“ zurück, mit dem man in Europa die Haltung der Japaner im Unglück charakterisiert hat.
Der „stoischen Philosophie“ nach, deren „erste Schule“ (die Ältere Stoa) im dritten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland von Zenon begründet wurde und die dann vor allem in der römischen Aristokratie Anhänger fand, war es das wichtigste Ziel im Leben, die ataraxia, die unerschütterliche Ruhe im Inneren, zu erlangen; diese verhalf dem Einzelnen dazu, seine moralische Unabhängigkeit in Lebensweise und Urteil zu gewinnen. Nur solchen ‚zu sich selbst gekommenen Einzelnen‘ wurde die Fähigkeit zugetraut, dem Staatsganzen verlässlich und unbestechlich zu dienen. Die Weisheitslehre der Stoiker zielt auf Selbständigkeit des Einzelnen und seine darauf gründende Zuständigkeit für das gesellschaftliche Ganze. Als Paradebeispiel stoischer Haltung gilt Cato der Jüngere (95- 46 v. Chr.), der in dem Kampf zwischen Anhängern der Senatsherrschaft, der ‚Republik‘ einerseits, der Herrschaft eines Einzelnen andererseits dem überlegenen Gegenspieler Julius Caesar unerschütterlich widerstand, auch dann noch, als seine Partei längst verloren hatte, und der alle Kompromiss- und Versöhnungsvorschläge ablehnte, um sich schließlich selbst das Leben zu nehmen.
Die Disziplinierung der eigenen inneren Regungen, wie man sie in Japan beobachten kann, entspringt offenbar einer anderen Motivationslage und wird mit einer anderen Zielrichtung ausgelebt: Man beherrscht sich, um den Mitmenschen den Anblick der eigenen Verzweiflung und Hilflosigkeit zu ersparen und zugleich das eigene „Gesicht zu wahren“. Nicht einem fernöstlichen Stoizismus begegnen wir, wenn wir die „Selbstbeherrschung“ der Japaner in der Katastrophe beobachten, sondern einer Tradition des Konfuzianismus, die mit bestimmten anderen Merkmalen des Sozialverhaltens verbunden ist: dem Bemühen, nicht ‚auffällig‘ zu werden, sich nicht gegen die Gesellschaft und schon gar nicht gegen deren Repräsentanz, die Obrigkeit, aufzulehnen, so weit wie möglich im Kollektiv aufzugehen.
Nun hat sich in Japan, spätestens seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, auch eine eher gegenläufige Bewegung angebahnt, die man mit „westlichen“ Einflüssen in Verbindung bringen, die aber auch als Reaktion auf die immer komplexer werdende Technologie begriffen werden kann, die ihrerseits eine größere Variabilität und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen erfordert. Seitdem gibt es eine pädagogische Vision, die sich allmählich zu einem Konzept entwickelt hat und in die Didaktik und Methodik der Schulen und Universitäten vorgedrungen ist. Sowohl dem einzelnen Lehrer als auch dem einzelnen Schüler werden größere Verfügungs- und Spielräume eingeräumt, die Anforderungen der zentralen Lehrpläne werden weniger strikt formuliert, ihre Optionsbreite erweitert. Bei dieser Entwicklung hat der Einfluss der Montessori-Pädagogik keine unbeträchtliche Rolle gespielt. Auch in Japan, so kann man resümieren, hat sich die Einsicht etabliert, dass man ohne die Förderung der „Kreativität des Individuums“ nicht genügend Spitzenmanager heranbilden könne, um die einmal erreichte Position im internationalen Wettbewerb zu halten.
Inwieweit das Kalkül für die japanische Wirtschaft aufgegangen ist, ist schwer feststellbar. Unübersehbar dagegen sind die Folgen, die sich in Fragen der privaten Lebensführung ergeben haben – ablesbar an dem Wandel der Geschlechter- und Familienrollen und, hier besonders gut sichtbar, an der Spielbreite der Bekleidungsmode. Japan ist bunter geworden. Aber die Grenzen des Wandels werden überall dort sichtbar, wo Individualität und soziales Rollenverhalten interferieren. Noch immer wird, soweit irgend möglich, der Konflikt mit dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem man seine berufliche Funktion auslebt, vermieden. So neigen, wie in der gegenwärtigen Krise zu erkennen war, auch die Akteure der öffentlichen Medien dazu, denen gegenüber „loyal“ zu sein, über die sie kritisch berichten sollten. „Japanische Reporter haben ihre Büros oft direkt in den Institutionen, über die sie berichten. Sie gehören praktisch dazu und warten mit den Kollegen anderer Zeitungen und Sender geduldig auf die Presseverlautbarungen, die man ihnen hereinreicht.“ (DER SPIEGEL, 12, 2011, 98) Sich der korrumpierenden Verstrickung von Regierung einerseits, atomarer Großtechnologie andererseits zu konfrontieren, verlangt von dem Einzelnen eine Verhaltensänderung, die in der Öffentlichkeit, in die hinein er wirken will, als Rollenbruch erlebt wird – was er selbst am deutlichsten erlebt.
Auch der junge Mann, der mit dem Megaphon in der Hand vor der Zentrale von Tepco in Tokyo um protestierende Mit-Demonstranten wirbt, weiß, dass seine Erfolgsaussichten – noch – begrenzt sind.

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Wie komme ich dazu, wie kämen wir Europäer dazu, uns eine Verhaltensänderung von immer mehr Japanern in Sachen des öffentlichen Protestes zu wünschen? Andere Länder, andere Sitten – andere kulturelle Traditionen, andere Verhaltensweisen des Einzelnen in der Gesellschaft und ihr gegenüber. Kurz und gut: Was geht die Sozial-Intimität Japans uns an?
Mehr denn je.
Seit dem 11. März ist die Evidenz der längst gewussten Tatsache, dass wir alle unter der gleichen Bedrohung durch eine Energiequelle stehen, sprunghaft gewachsen – der Energiequelle, deren Unvermeidbarkeit/Vermeidbarkeit seitdem neu überdacht wird. In Deutschland ist die Havarie in Fukushima binnen weniger Tage zu einem Schlüsselereignis für die deutsche Atompolitik geworden. Das bei Fukushima kontaminierte Meer, das von Fukushima aus kontaminierte Luftmeer ist plötzlich zum (Luft-)Meer aller geworden. Die Globalisierung der Furcht vor der atomaren Verstrahlung des Planeten verbindet Japan mit dem Rest der Welt anschaulicher, emotional wirksamer, als es die unkontaminierte Luft, das unkontaminierte Meer vor dem 11. März getan hat.

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