Erzählung
Dietrich Krusche
I
Mein Name ist Bertrand. Ich bin Ihr Arzt. Verstehen Sie mich?
Ja.
Wissen Sie, wo Sie sind?
In einer Klinik.
Und wo ist die Klinik – ungefähr?
Ich habe die Schwester gefragt. Avignon.
Wissen Sie, wie Sie hierher gekommen sind?
Nein.
Wissen Sie, seit wann Sie in Frankreich leben?
Hier? Seit wann?
Das hätte ich Sie auch noch gefragt? Sind Sie verheiratet?
Ja. Eine Tochter.
Leben Sie mit Ihrer Frau zusammen?
Warten Sie. Nein. Meine Frau hat sich von mir getrennt.
Wissen Sie, warum? Sie brauchen es mir nicht zu sagen, was der Grund für die Trennung war, aber wissen Sie es, oder glauben Sie wenigstens, es zu wissen?
Ja – doch, ja. Aber es ist so, als hättet es jemand anderes mir gesagt.
Interessant, sagte er zu der Krankenschwester, die neben ihm stand. Die Nahzone ist gelöscht, eine Folge des Sturzes. Aber der springende Punkt ist offenbar nicht der Unfall, sondern irgendetwas davor. Warten wir also.
23. Juni
„Arbeit“, sagt der Arzt immer wieder, „es ist eine Sache der Arbeit an Ihrer Erinnerung. Nicht die körperliche Verletzung ist das Problem. Den Verband, den Sie da am Kopf haben, können Sie vergessen. Es geht darum, den Zusammenhang in Ihrem Leben wiederherzustellen. Man könnte auch von einem Kampf sprechen. Einem Kampf, den Sie um sich selbst und zugleich gegen sich selbst führen.“
Er versucht mir klarzumachen, wie wichtig die kommenden Tage und Wochen sind. Dafür, dass das Vergessene, jedenfalls das meiste davon, zurückkommt, verbürgt er sich. Was davon freilich früher, was später zurückkommt, sagt er, lässt sich nicht vorhersagen. Nur eins ist durch Erfahrung belegt: Was sich unmittelbar vor dem Unfall ereignet hat, ist gewöhnlich das Letzte, was im Gedächtnis wieder auftaucht.
Um mir den Wiedereintritt in die Zeitrechnung zu erleichtern, hat er einen Abreißkalender an die Wand dem Bett gegenüber hängen lassen und die Stationsschwester beauftragt, das Abreißen für mich zu besorgen.
Er spricht langsam und in einfachen Worten. Kann sein, dass er mich nicht strapazieren will, kann sein, dass er meinem Französisch nicht traut.
Ein Arzt ohne Kittel. Auch Kragenhemden sind nicht seine Sache. Stattdessen T-Shirts. T-Shirts in freundlich-hellen Tönungen, hellgelb, hellrot, hellbeige. Dazu Straßenschuhe, Blue Jeans. Straffe Haltung, kurzer Haarschnitt. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, dass der Haarschnitt aus seiner Zeit als Militärarzt stamme und dass sein Zivil ein Teil der Therapie sei. Schließlich gehe es bei den meisten seiner Patienten um ein Leiden, das nur vom Leben selbst, also im Alltag, zu heilen ist. Dann kam er noch einmal auf die Erinnerung zurück. Er nannte sie die „Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart“. Das sei, solange ich nun mal in der Klinik bleiben müsse, mein ganz privater Alltag – oder jedenfalls der wichtigste Teil davon.
Er muss mir die Zweifel am Gesicht abgelesen haben.
„Und wenn die Erinnerung“, setzte er abwiegelnd hinzu, „nicht kommen will, wenn das Gedächtnis sich als widerspenstig erweist, dann schreiben Sie eben nur das auf, was um Sie herum ist.“
24. Juni
Leicht gesagt.
Nach all den Jahren des Schreibens auf einem Keyboard rutscht mir der Bleistift auf dem Papier weg. Bestimmte Buchstaben, zum Beispiel das „k“ und das „r“ entgleisen immer wieder, längere Worte, zumal wenn sie auf „m“ oder „nn“ ausgehen, verflachen zu einem Strich wie eine Hirnstromanzeige, die gegen „Null“ geht. Das Papier, das sie mir gegeben haben, ist kariert. Ein dicker Block. Mein ganzes Leben hätte Platz darin, Vergessenes und Nichtvergessenes – es sei denn, das Vergessene erweist sich als so groß, dass alles, was ich bisher für mein Leben gehalten habe, zur Bagatelle wird.
Schreiben, was „um mich herum“ ist.
An der Wand mir gegenüber, zwischen der Tür des Einbauschranks und der Tür zum Badezimmer, hängt ein weniger bekanntes Sonnenblumenbild van Goghs und neuerdings der Abreißkalender. Links von mir ist die Tür zum Korridor, durch die in Abständen von höchstens einer Stunde eine Schwester kommt, um zu fragen, wie es geht. Meistens hat sie noch irgendetwas in der Hand, das Blutdruckmessgerät, die geleerte Bettflasche, das Fieberthermometer oder eine Kanne Tee – angeblich kann ich gar nicht genug Flüssigkeit zu mir nehmen. Überhaupt kommt es mir so vor, als sei das Trinken hier nicht einfach die Aufnahme von Flüssigkeit, sondern eine rituelle Handlung, irgendetwas zwischen Yoga und Rosenkranz.
Das Fenster ist immer offen.
Auf dem Fensterbrett steht eine halbvertrocknete Geranie, die weder auf mein Gut-Zureden noch auf die tägliche Wässerung durch die Schwesternschülerin reagiert. Mager, blass, wie die Schülerin ist, hat sie wahrscheinlich auch das Blumengießen noch zu lernen. Verkehrslärm, der nie endet, auch nachts nicht, wenn die einsamen Motorräder zirkulieren. Der ohnehin nicht große Fensterausschnitt wird ganz und gar von einer Mauer ausgefüllt, die aus enormen Quadern besteht.
25. Juni
Mein Problem ist nicht so sehr die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Was mir fehlt, ist Orientierung. Aber statt mir dabei zu helfen, hält man mich im Ungewissen.
Die ersten Tage hier im Zimmer – an die Intensivstation erinnere ich mich nicht – waren ohnehin nur eine Pantomime in Weiß, in der fürsorglich-langsame und ungeduldig-schnelle Bewegungen der Gestalten um mich herum ineinander übergingen. Hektisch wurde der Tanz immer dann, wenn ich nach Worten suchte, abweisend, wenn die Worte sich zu Fragen zusammensetzten. Erst allmählich, als die lautlos tanzenden Figuren Gesichter bekamen, stellten sich auch die ersten Antworten ein – oder vielmehr das, was die Antworten ersetzte.
Alle Schwestern, wie sie nacheinander hereinkamen, habe ich gefragt. Die Erinnerung an das unersättliche Fragebedürfnis ist ganz frisch, auch wenn die Fragen zugleich mit den Gesichtern, die dazugehören, abgeblasst sind. Gefragt, nach all dem, was mir gleichzeitig, durcheinander, gegeneinander durch den Kopf gegangen sein muss: Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Was ist passiert? Was genau ist unter dem Pflaster, das seitlich an meinem Kopf klebt? Was sind das für Medikamente, die ich morgens, mittags, abends schlucke, und wozu sollen sie gut sein? Wie lange muss ich noch liegen bleiben? Von wem stammt die Anweisung, auf gar keinen Fall allein aufzustehen, geschweige denn das Zimmer zu verlassen, nicht einmal zur Toilette hin? Was heißt „anhaltende Sturzgefahr“?
Die Schwester mit dem dunklen Bärtchen auf der Oberlippe, die kräftigste, umstandslos mütterlichste, wenn auch nicht gerade die freundlichste von allen (sie ist es, die der Arzt mit dem Abreißen des Kalenders beauftragt hat), hat sich noch als die gesprächigste erwiesen – anders gesagt: ihre Antworten sind es, die sich erhalten haben. Von ihr weiß ich, dass die „neurologische Abteilung“ dieser Klinik die beste in ganz Südfrankreich und dass mein Zustand vom Standpunkt des Pflegerischen aus „völlig normal“ ist. Mehr Essen wäre gut, mehr Trinken besser, weniger Unrast das Beste von allem. Angesichts meines Falls hat sie „leider“ hinzugesetzt. Denn diejenigen, die es mit dem Aufstehen am eiligsten hätten, müssten gewöhnlich besonders lange darauf warten. Dass ich immer noch auf die Bettschüssel müsse, sei eine wohlbegründete Maßnahme, und im übrigen eine Belanglosigkeit, aus der nur ich eine Affäre machte. Seit ein paar Minuten weiß ich auch, dass die Mauer im Fensterausschnitt zum Papstpalast von Avignon gehört, jedenfalls „im weiteren Sinn“.
Alles andere muss ich wohl oder übel dem Mann im T-Shirt glauben, der sagt, dass er mein Arzt ist.