Die Dimensionen des Wandels
Das Klima auf dem Planeten Erde verändert sich ständig. Als es vom 15. Jahrhundert an in Europa kälter wurde, konnte man sich darauf einstellen. Mehr Holz zum Feuern, dickere Mäntel, Schlittschuhlaufen auf der Themse. Schon damals freilich trafen die Veränderungen die Armen härter als die Reichen. Auf dem Winterbild „Die Heimkehr der Jäger“ von Pieter Brueghel dem Älteren (1525-1569), einem der ersten Winter-Bilder in der europäischen Malerei, kommen die Jäger mit leeren Händen zurück ins verschneite Dorf, entsprechend trist die Stimmung. Aber der Vergleich trügt. Der Umweltwandel, der sich heute abzeichnet, erfasst den Planeten insgesamt und er trifft auf eine andere, eine unumkehrbar vernetzte Menschenwelt. Zwei Prozesse, Naturentwicklung und Geschichte, fusionieren in einer gemeinsamen Tendenz, der Globalisierung. Die Entscheidungen, die zu treffen sind, werden alle betreffen, der notwendige Einigungsprozess, die dabei fälligen Verhandlungen, werden die Menschheit vor neuartige Probleme stellen.
Das zentrale Ereignis im Klimawandel, der sich selbst verstärkende Vorgang der Temperaturzunahme, wird sich nicht überall gleich auswirken sondern höchst variant. Wo genau es kühler, wo es wärmer werden wird und um wie viel, wo genau die Niederschläge stärker, wo sie geringer sein werden, ist noch nicht genau vorhersagbar. Vage auch die Prognose, dass die katastrophalen Ereignisse im Wettergeschehen, extrem starke Taifune und Hurrikans, exzessive Monsunregen, zunehmen werden, dass Meeresströmungen, zumal der Golfstrom, sich ändern können. Völlig ungewiss ist immer noch, ob, wann und in welcher Beschleunigung es zu einem Auftauen des Permafrostes kommen wird, wie viel CO2 und Methan dabei freigesetzt werden, welche Funktion der Wolkenbildung zukommt und was passiert, wenn das in der Tiefsee gebundene Methan frei wird.
Etwas anderes dagegen steht fest. Unser Verhältnis zu unserer Welt wird ins Schaukeln geraten. Die Routinen im Umgang mit Wetter und Jahreszeit, damit auch großer Bereiche der Nahrungsmittelgewinnung, werden an Stabilität verlieren, das bisher selbstverständliche, gar nicht ins Bewusstsein genommene In-der-Welt-Gefühl wird zu krümeln beginnen. Die Einsicht, dass wir dabei sind, unseren blauen Planeten nicht nur als Lebensraum für zahllose andere Lebewesen, sondern auch als unsere eigene Heimat zu ruinieren, wird unabweislich werden. Keine geschichtliche Erfahrung ist heranzuziehen, um daraus zu lernen. Auch die These Francis Fukuyamas von 1992, dass mit dem „Sieg des Kapitalismus“ die Geschichte zu einem Ende gekommen ist, hat sich überlebt. Der Begriff der Geschichte selbst muss geöffnet werden, damit ihm der Faktor der Umweltgeschichte hinzugefügt werden kann. Und noch etwas, das feststeht: Die Notwendigkeit, schnell, allzu schnell, handeln zu müssen, wird uns pressen. Die Zeit, die für die komplexen Absprachen und Entscheidungen zwischen den Betroffenen des Klimawandels – uns allen – nötig ist, wenn das Chaos unzähliger Teilkonflikte nicht überhandnehmen soll, wird uns fehlen. Anders ausgedrückt: Der gespürte Wandel wird größer sein als der faktische.
Nein, die Katastrophe, die es zu vermeiden gilt, ist nicht der Untergang der Menschheit in einer neuen Sintflut, sondern die, dass auch im Klimawandel alles so weitergeht wie bisher. Denn verlängert man den bisherigen Verlauf der Geschichte in die Zukunft, fällt die Prognose leicht: An den am besten bewohnbaren, den gesündesten Orten der Erde, den „Bio-Orten“ heutiger Ausdrucksweise nach, werden dann diejenigen sitzen, die das meiste Geld haben, während der Rest der Menschheit mehr oder weniger erfolgreich ums Überleben kämpft, von den Trutzburgen des Überlebens im Luxus gewaltsam ferngehalten.
Was wird zu verhandeln sein?
Die Komplexität dessen, was zu verhandeln sein wird, hat mit der Varianz der Veränderungen zu tun. Die fälligen Umsteuerungen, Umverteilungen, Umsiedlungen, Kompensationen und Ausgleichszahlungen werden die jeweils Betroffenen in verschiedener Weise belasten. Lassen wir die Unterschiede zwischen Armut und Reichtum innerhalb der einzelnen Gesellschaften beiseite und konzentrieren uns auf das intergesellschaftliche Gefälle zwischen Arm und Reich.
Offenbar überlagern sich hier zwei Aspekte menschlicher Evolution: der anthropologische und der machtgeschichtliche. Zum ersten Problemkomplex hat die Kulturanthropologie in den letzten Jahrzehnten Erhellendes gesagt. Jared Diamond hat in seinem Buch Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften (deutsch 2004) und in seinem neuesten Werk Kollaps (deutsch 2005) den Zusammenhang zwischen den naturgegebenen Lebensbedingungen und den vorgeschichtlichen bzw. frühgeschichtlichen Schicksalen der verschiedenen Gruppen und Gesellschaften durchschaubar gemacht. Auf eben diese – ungleichen – Ausgangsbedingungen hat sich Weltgeschichte gleichsam draufgesetzt.
Der Anstoß zur Globalisierung ging von Europa aus. Die Epoche, die euphemistisch als „Zeitalter der Entdeckungen“ bezeichnet wird, begann in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und war durch Eroberung, Missionierung und Ausbeutung bestimmt. Die Folgen der Überwältigung im Kolonialismus werden aus der sozio-ökonomischen Entwicklung der betroffenen afrikanischen, asiatischen, mittel- und südamerikanischen Gesellschaften niemals herauszurechnen sein. Wo sie plötzlich hervorbrechen wie im islamistischen Terror heute, stiften sie Verwirrung und Entsetzen. Was im kollektiven Bewusstsein Europas/Nordamerikas nicht hinreichend präsent ist: dass mit dem faktischen Ende der Kolonialherrschaft die Verstrickung des Abendlandes in die Entwicklung der außereuropäischen Kulturen nicht gelöst ist.
Auf eine Spätfolge dieser Verstrickung haben Ian Buruma und Avishai Margalit in ihrem Buch Occidentalism (2004) hingewiesen. Der Titelbegriff „Okzidentalismus“ steht dabei für das Ressentiment der kolonial Überwältigten gegen all das, was ihnen von Seiten ihrer Überwältiger zugefügt worden ist und was sie noch heute in der Haltung ‚des Westens‘ ihnen gegenüber zu erkennen meinen. Das bezieht sich nicht nur auf die Anwendung militärischer und wirtschaftlicher Gewalt, sondern auch die kulturelle Dominanz. Dass dieses Ressentiment durchaus zwiespältig ist, sieht man an all dem, was vom Abendland zustimmend übernommen wurde: Naturwissenschaft, Technologie und vor allem die Errungenschaften der modernen westlichen Medizin.
Aus der Überwältigung durch ‚den Westen‘, die zu einer Entgleisung der eigenen Kulturentwicklung führte, leitet sich heute der Anspruch der ’sich entwickelnden Gesellschaften‘ ab, das vom Westen Erreichte endlich nachzuholen. Global wird dieses Problem dann, wenn es darum geht, wie viel Nachholung diese Gesellschaften sich angesichts des Klimawandels werden leisten können. Das Paradebeispiel dafür ist China – auch wenn China in seinen kulturellen Ausgangsbedingungen nicht benachteiligt und niemals als Ganzes kolonial geknebelt war. China will und kann ‚aufholen‘, es hat die Zahl der Bürger und die kulturelle Befähigung dazu, große Teile der Welt mit konkurrenzlos billigen Produkten zu versorgen. Aber um welchen Preis? Dass es sich mit seiner restriktiven Sozialpolitik selbst gefährdet, ist in erster Linie Sache der Chinesen. Aber die Umweltbelastungen, die von Chinas technologisch rückständiger Industrie produziert werden, gehen nicht nur den Bürgern Chinas an die Atemluft.
Wie wird zu verhandeln sein?
Teilfragen:
- Welche Bilder/Konzepte/Theoreme von der Gleichheit aller Menschen lassen sich mobilisieren?
- Welche Konzepte kultureller Differenz und Gleichwertigkeit sind bisher entwickelt worden?
- Welche Begründungen universeller Menschenrechte sind geeignet, kulturelle, religiöse Differenzen akzeptabel zu machen?
- Welche Rahmenbedingungen eignen sich für die Verhandlung dieser global-allseitigen Zusammenhänge?
Jeder menschliche Verband handelt in seinem eigenen Interesse, aber die Unterschiede darin, wie es vertreten wird, sind erheblich. Sie ergeben sich aus den Erfahrungen, die die verschiedenen Gesellschaften im Umgang mit anderen gemacht haben. Der erste Faktor, der ins Auge fällt, ist der Umfang bzw. die Häufigkeit von Außenkontakten. Japan zum Beispiel ist auf Grund seiner insulären Randlage eine Nation, deren Geschichte durch relativ kurze Episoden intensiver Außenkontakte, lange Perioden strikter Abgeschlossenheit bestimmt ist. So hatte Japan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wenig Anlass, sein eigenes Fremdheitsprofil gegenüber anderen Kulturen zu reflektieren, sich selbst als eine Kultur unter anderen zu modellieren.
Ähnliches gilt – erstaunlicherweise – für China, das „Reich der Mitte“. Hier haben ganz andere Gründe zu einem Selbstverständnis geführt, das Gedanken darüber, wie man auf andere wirkt, unnötig und daher unwahrscheinlich gemacht. Die Unbefangenheit, ja Naivität, in der auch das gegenwärtige Regime seine imperialen Machtansprüche auslebt, sind verblüffend. Die ungebremste und nahezu unverhüllte Gewaltanwendung gegen Minderheiten (z. B. die Falun-Gong), politischen Dissidenten im Inneren und benachbarten Kulturen (z. B. Tibet) gegenüber, die Zensur des Internet, die weltweite Spionage (bis in die Computer der Bundesrepublik und des amerikanischen Regierungsapparats hinein), die Unterstützung von skrupellos gewalttätigen Regimen (Sudan, Myanmar) aus energiepolitischen Gründen, das kindisch wirkende `Beleidigtsein´, wenn der Dalai Lama wieder einmal irgendwo in der Welt geehrt wird – all das konterkariert den Anspruch, künftig eine, wenn nicht gar die Weltmacht sein zu wollen. Sicher, da sind die Wachstumswerte der Wirtschaft, an denen besonders westliche Experten sich berauschen. Aber ist eine `Weltmacht´ denkbar ohne Werte, die auch für andere attraktiv sind, ohne Programm für ein Zusammenleben, das auch für die übrige Welt gedeihlich ist? Man denke an die pax Romana, an die freiheitlichen Ideale Frankreichs, die liberalen und rechtsstaatlichen Prinzipien Englands. Dass diese Programme oft vorwandhaft eingesetzt wurden, ist eingeräumt. Aber eine ‚Weltmacht‘, die nichts anderes vor sich herträgt als den Anspruch auf Herrschaft? Einiges spricht dafür, dass China das Problem erkannt hat. So hat es damit begonnen, im Ausland „Konfuzius-Institute“ zu eröffnen, und sich die Ausrichtung einer Olympiade gesichert. Die Sommerspiele 2008 in Peking werden Aufschluss darüber geben, wie China sich künftig dem Rest der Welt präsentieren will.
Und ‚der Westen‘ selbst?
In dem oben zitierten Buch von Buruma/Margalit wird auf einen Zusammenhang zwischen praktiziertem Kolonialismus und der Herausarbeitung universeller Menschenrechte hingewiesen. Beides geschah gleichzeitig. Europa handelte imperial und kritisierte eben das an sich selbst. Es setzte sich selbst absolut – und lernte dabei, sich selbst zu relativieren. Eben diese These belegt Walter Veit, ein in Melbourn lehrender Kulturwissenschaftler, in seiner Arbeit „Topik einer besseren Welt“ (Georg-Forster-Studien XI, 2006). Er zitiert darin all die einzelnen Europäer, Missionare, Forschungsreisende, Philosophen, die sich der Vereinnahmung der anderen Kulturen durch Europa widersetzt haben: Las Casas, Joseph Banks, Georg Forster, Diderot, um nur einige zu nennen. Von Georg-Christoph Lichtenberg (1742-1799) stammt der Aphorismus: „Der Amerikaner, den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“
Folgt man dieser Spur, wird erkennbar, dass die Herausarbeitung der Begriffe des „Naturrechts“ (Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius, Wolff, Rousseau, Fichte, Schelling), des säkularen Staates als Ergebnis eines „gesellschaftlichen Vertrags“ (Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua, Hobbes, Kant, Fichte), der „individuellen Freiheitsrechte“ (Kant, Schelling), aus zwei Traditionssträngen heraus erfolgt ist: der Binnengeschichte Europas und seiner selbstkritischen Verarbeitung der Begegnung mit anderen Kulturen. Eben diese Begriffe konnten von Freiheitskämpfern wie Mahatma Ghandi und Nelson Mandela, die beide Kulturen kannten, ihre eigene und die europäische, gegen Europa selbst ins Feld geführt werden. Begriffe wie „Terre des Hommes“, Organisationen wie „Cap Anamur“, „Medicins sans frontiers“, „Ärzte für die Dritte Welt“ und politische Gruppierungen wie „Attac“ gehen auf diese Tradition zurück.
Das anthropologisch-ethische Postulat, dass die Menschen sich untereinander – sei es in der gemeinsamen Gotteskindschaft, sei es in der Teilhabe an menschlicher Vernunft – als gleichwertig anerkennen müssten, hat in der Philosophie der Gegenwart eine pragmatische Wende genommen: hin zur Beschreibung eines angemessenen zwischenmenschlichen Handelns. Sie ergab sich aus der Sprechakttheorie, deren Entwicklung vor allem mit den Namen John L. Austin und John Searl verbunden ist. Ihre Anwendung auf eine allgemeine Theorie des kommunikativen Handelns (1980) hat Jürgen Habermas vollzogen. Für den komplexen Zusammenhang der Verhandlung des Klimawandels lassen sich wenigstens zwei Fragestellungen übernehmen: (1) Worauf lässt sich der Konsens darüber gründen, in welchem Rahmen die Verhandlungen stattfinden sollen, (2) Welche Funktion kommt der global gewordenen Öffentlichkeit dabei zu?
(1) Soweit ich sehe, gibt es einen weitgehenden Konsens darüber, dass nur die Vereinten Nationen den Verhandlungsrahmen abgeben können. Er gründet sich auf zweierlei: auf die seit 1945 erprobte Integrationskraft der UN und die rational unabweisliche Einsicht, dass alle Nationen/Gesellschaften vom Klimawandel betroffen sein werden. (Der Satz „Wir sitzen alle im gleichen Boot“ wird an Evidenz noch gewinnen.) Wie wichtig die Rahmengebung ist, lässt sich an den Widerständen dagegen ablesen. So haben die USA im Vorfeld der Versammlung aller Regierungschefs im September 2007, in der von 172 Mitgliedern eine Fortsetzung des Kyoto-Prozesses beschlossen wurde, eine Konkurrenzversammlung etabliert, in der die Reduzierung des Ausstoßes von CO2 von der exklusiven Runde der größten Schadstoffemittenten auf der Basis völliger Freiwilligkeit verhandelt werden soll – dem Druck der Weltmeinung (des Weltinteresses) qua Verhandlungsrahmen entzogen. Inzwischen haben sie auf allen Kyoto-Folge-Konferenzen dasselbe getan. Diese Taktik ist nur allzu gut verständlich. Da alle Staaten, alle Länder, Regionen, Kommunen, ja die allermeisten Privathaushalte von den Veränderungen betroffen sind, werden extrem multilaterale Verhandlungen zu führen sein, kann der Druck der globalen Mehrheit auf die einzige Weltmacht extrem groß werden.
(2) In eben diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des Faktors der Weltöffentlichkeit sichtbar. Ihre Einbeziehung ist das einzige gewalt- und repressionsfreie Druckmittel, das gegen jede Art von Einzelinteressen mobilisiert werden kann. Denn die Chance auf eine Lösung von Streitfragen durch ’sachliche Argumente‘ ist umso geringer, je willkürlicher, gewalttätiger und damit irrationaler eine Ausgangslage ist, die durch den Klimawandel verschärft wird. Dazu zwei Szenarien: (a) Ein ’sich entwickelnder‘ Staat, der von einem korrupten (paranoiden?) Herrscher geknebelt ist, verstreut seine flüchtenden Bürger über die – ihrerseits umweltgeplagten – Nachbarländer. (b) Ein multi-ethnisches Land wird von einer korrupten Clique (z. B. einer Militärjunta) beherrscht, die sich zur Ausbeutung der Bodenschätze der Komplizenschaft internationaler Konzerne versichert hat; die rebellierenden Minderheiten werden aus dem eigenen Staatsgebiet in Nachbarländer vertrieben, die dadurch (siehe a) unter Druck geraten. Die jeweiligen Verhandlungen können – wenigstens das – von den Repräsentanten der UN protokolliert und über das Internet der global gewordenen Öffentlichkeit präsentiert werden. Deutlich wird im Blick auf solche Szenarien auch, dass die Funktion des Sicherheitsrates in seiner bisherigen Zusammensetzung und unter Beibehaltung von „Vetomächten“ unbrauchbar, ja destruktiv geworden ist.
Wesentlich konkreter, wenn auch nicht notwendig optimistischer, fällt eine Überschau aus, welche aktuell wirksamen Kulturfaktoren angesichts des Klimawandels als Blockaden, welche als Öffnungen zu begreifen sind.
Blockaden
Manichäismus. Die Unterteilung der Welt in gut und böse, gottgewollt und widergöttlich geht auf eine frühchristliche Sekte zurück. Dass er in die Gegenwart einbrechen konnte, hat mit der Radikalisierung einer Minderheit des heutigen Islam zu tun. Wie es dazu kam, hat Dan Diner in seinem Buch Versiegelte Zeit (2005) beschrieben. „Versiegelt“ bedeutet hier soviel wie ‚angehalten‘ und bezieht sich auf die Geschichtszeit. Gesellschaften, die sich so verhalten, als könnten sie den weltgeschichtlichen Wandel an sich vorbeiziehen lassen, bringen sich selbst in eine defensive und schließlich verzweifelte Lage. Die eigene Position wird absolut gesetzt, die menschliche Solidarität mit ‚Ungläubigen‘ negiert – bis hin zum Terror gegen die aktuelle Leitkultur und Weltmacht. Was sich in mehr oder weniger spektakulären Aktionen bereits seit den 90er Jahren andeutete, ist am elften September 2001 zum epochemachenden Eklat geworden. Aber was geschah danach? Die Weltmacht, die bisher als Garant der Freiheitsrechte und Liberalität gegolten hatte, handelte ihrerseits manichäistisch. Auch hier brach lange Vorbereitetes durch: die latente Neigung bestimmter Gesellschaftsteile der USA, sich als Nachfolger des Messias zu begreifen In der „Battle-Hymn of the Republic“ heißt es: „… As he died to make men holy, let us die to make men free…“ Die Administration des George W. Bush bediente sich des religiösen Fundamentalismus, um einen Krieg beginnen zu können, für den es ganz andere Gründe gab – ein Täuschungsmanöver, das spektakulär misslungen ist. Guantanamo, Abu Graib, das Entgleisen der gesellschaftlichen Prozesse im Irak… Der katastrophale Geltungsverlust der USA betrifft uns alle. Im Klimawandel brauchen wir einen Hegemon, der mit kulturellen Unterschieden umzugehen vermag.
Die kulturelle Überhöhung der Gier. Auch die zweite der hier angesprochenen Blockaden kann nicht ohne Bezugnahme auf die USA erörtert werden. Das ist kein Zufall (auch nicht Ausdruck einer Amerikafeindlichkeit bei mir, D. K.), sondern unvermeidlich: Die Möglichkeiten der Zukunft können nicht an den Werten der einzigen Weltmacht vorbei gedacht werden, sondern nur durch diese hindurch.
Zum tierischen Trieb gehört, dass er Befriedigung kennt, Gier kennt sie nicht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Seit es Menschen gibt, waren die Unterschiede zwischen den Individuen größer als bei allen anderen Gattungen des Tierreichs, Unterschiede zwischen Arm und Reich sind unvermeidlich. Aber seit dem „Sieg des Kapitalismus“ ist der Dynamismus der Geldvermehrung außer Rand und Band geraten. Man vergleiche die Liste der Reichsten in der Welt von 2006 mit denen davor und beachte die steigende Zahl derer, die im reinen Geldgewerbe tätig sind, der Fondsmanager und Devisenspekulanten. Exzessive Unternehmer-Gewinne (wie bei Bill Gates) sind eher Ausnahmen, die mit Ausnahmeprodukten erklärbar sind. Geldvermehrung geschieht immer weniger durch gesellschaftlich relevantes Handeln (Innovation, Produktion etc.), immer mehr durch Handeln mit Geld. Grenzziehungen von Seiten des Staates werden kaum vermeidbar sein: durch Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen von Aktiengesellschaften, stärkere Kontrolle der börsennotierten Fonds etc. Der deutsche Bundespräsident, selbst ein Wirtschaftsmann, engagiert sich eben jetzt in dieser Sache. Aber wie soll das bisher Unmögliche möglich werden – zumal in den USA, der Geld-Kultur par excellence? Die symbolische Camouflage: die Anwendung des Bibelwortes „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ auf Geldgewinn, die Gleichsetzung der „guten Früchte“ mit einem Mehr an Kapital.
Öffnungen
In einer Situation wie dieser sind die Möglichkeiten keine offenen Türen oder gar Scheunentore, allenfalls Öffnungen, die man daran bemerkt, dass ein Luftstrom spürbar ist.
Kollektive Konkurrenz – individuelle Verzichtbereitschaft. Wie Umfragen zeigen, gibt es Deutschland immer noch keine Mehrheit für einen kollektiv-einseitigen Verzicht. „Eine Umweltsteuer nur in Deutschland?!“ „Und wenn die anderen dann nicht nachziehen?“ „Wir, uns selber schwächen?!“ „Verzichten auf unsere Geltung in der Welt?!“… So gibt es bisher auch keine Mehrheit für Maßnahmen, die unsere Schlüsselindustrie, die Automobilbranche, benachteiligen könnten, eine Beschränkung der Geschwindigkeit auf Autobahnen gehört dazu. Andererseits gibt es, wie z. B. die letzte Internationale Automobilausstellung gezeigt hat, einen deutlichen Trend zu umweltfreundlichen Autos hin, was den Verzicht des Einzelnen auf größere Motorenkraft, Schnelligkeit, spektakuläre Ausstattung usf. einschließt. Eine bemerkenswerte Umzeichnung des Selbstprofils: von „ich bin stärker“ zu „ich bin umweltbewusst“. Gut belegt ist auch, dass Energiesparprogramme, sei es beim Wohnungsbau, sei es bei der Hinwendung zu erneuerbaren Energien bereitwilliger angenommen werden. Selbst die Bereitschaft, Preisaufschläge bei Fern-Flugreisen hinzunehmen, scheint zu wachsen. Als wolle man sich beim Flug in den exotischen Urlaub eines Begleiters entledigen: des schlechten Gewissens, das incognito mitreist. All das deutet auf Umschichtungen im Wertegefüge vieler Einzelner hin.
Verschiebungen der Grenze Nähe/Ferne. Nach der Tsunami im Dezember 2005 war das Spendenaufkommen in den entwickelten Ländern enorm, größer als bei allen vergleichbaren Anlässen davor. War es einfach nur das Spektakuläre des Ereignisses, das diese Reaktion auslöste? Ich glaube nicht. Die mediale Berichterstattung, zumal durch Bilder, die live zustande kamen, haben eine Art praktischer Beteiligung (ich meine gerade nicht: abstrakte Betroffenheit) ausgelöst, die der Wirkung einer Katastrophe in geographisch nächster Nähe ähnlich war. Dieser Nahholeffekt des Mediums Fernsehen könnte bei der Organisation des Klimawandels eine konstruktive Rolle spielen: im Sinne einer globalen Dokumentation. Noch stärker, wenn auch anders, geschieht die Nahholung der Ferne durch das Internet. Fast sieht es so aus, als sei es in Reaktion auf die Umweltkrise entwickelt worden. Es ist nicht zentrisch, ja nicht einmal knotenhaft organisiert (vom technischen Aspekt der Knotenbildung einmal abgesehen), sondern fraktal. Jeder einzelne Partizipant ist Sender und Empfänger, Ausgangspunkt und Zielpunkt der globalen Kommunikation zugleich. Alle Prozesse können allseitig/gleichzeitig aktiviert werden: Netze der Meinungsbildung und Entscheidungsketten, Linien der Expertise und Tableaus der Information.
Der Anspruch auf Selbstzuständigkeit. Wenn es etwas gibt, das sich heute in allen Kulturen gleichzeitig und in vergleichbarer Weise vollzieht, dann ist es die Zunahme des Anspruchs, über sich selbst verfügen zu können. Der Bereich, wo man das am besten beobachten kann, ist die Emanzipation der Frauen. Alle bedeutsamen Tendenzen der Kulturentwicklung der letzten Jahrhunderte konvergieren hier: die Postulate der Gleichheit und Freiheit aller Menschen, die Differenzierung des individuellen Bewusstseins infolge der wachsenden Komplexität der menschlichen Lebenswelt (eine These, die auf Norbert Elias zurückgeht, vgl. Über den Prozess der Zivilisation, 1976), die Möglichkeit der Geburtenkontrolle und die Teilnahme der Frauen an allen gesellschaftlichen Tätigkeiten, denen des homo faber, homo oeconomicus und homo communicator. Aktuell wird dieser Prozess bei der Frage, wie der Kampf gegen die Armut zu organisieren ist, brisant angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel. Entscheidend die Frage nach der Verteilung von Geldern an die Bedürftigsten, genauer: nach der Verteilungsstruktur. Ein Modell scheint mir besonders einleuchtend und gut erprobt zu sein, das der sogenannten „Mikrokredite“. Muhammad Yunus, der das System entwickelt und dafür 2006 den Friedensnobelpreis bekommen hat, argumentiert nicht so sehr sozio-ökonomisch oder gar moralisch, sondern pragmatisch. Sein Credo: Es komme darauf an, aus Menschen Unternehmer zu machen, Unternehmer ihres eigenen Lebens. Und wer für sein eigenes Leben Verantwortung übernehmen könne, könne es auch für die Lebenswelt. Es sei ein Missverstehen der menschlichen Kultur-Natur, wenn man den Unternehmer ausschließlich als „money-maker“ begreife und nicht als soziales Wesen mit einer produktiven Innerlichkeit, die Lernfähigkeit und pragmatische Vernunft ebenso einschließt wie die Lust der Selbsterfindung. Also nicht um Hilfe geht es, sondern um Hilfe zur Selbsthilfe! Das Hoffnungspotenzial dieser pragmatischen Anthropologie: Da die Umwelt im Wandel ist, wandeln sich auch die Selbstentwürfe der einzelnen Menschen und, davon angestoßen, die Vorstellungen, wie sich Menschen aufeinander beziehen können.
Falls die Beobachtung von Muhammad Yunus zutrifft, dass gegenwärtig besonders Frauen der Dritten Welt zu dieser Selbst- und Weltverantwortlichkeit hinfinden, umso schöner.