Dietrich Krusche: Vortrag, gehalten im Januar 2013 in Berkeley
Bei dem, was ich vortragen möchte, gehe ich von zwei Hypothesen aus.
(1)
Wenn wir einen Text, der an unser Vorstellungsvermögen appelliert, für uns allein lesen, ist alles einfach – auch dann, wenn er nicht in unserer Muttersprache geschrieben ist. Was wir verstanden haben, haben wir verstanden, was uns gefallen hat, hat uns gefallen, wenn wir ausgelesen haben, sind wir mit dem Text quitt. Schwierig kann es werden, wenn wir mit jemand anderem darüber sprechen und feststellen, dass unser Gesprächspartner beim Lesen ganz andere Vorstellungen gebildet hat als wir selbst, und noch schwieriger, wenn wir in einen methodischen Diskurs darüber eintreten, zum Beispiel in einer akademischen Veranstaltung.
All diese Schwierigkeiten gehen darauf zurück, dass wir auf einen fiktionalen Text „in voller Breite“ reagieren, d. h. mit all unseren Interessen, Neugierden und Vorerfahrungen – also höchst individuell. Markante Lese-Unterschiede können sich ergeben, wenn die Gesprächseilnehmer aus verschiedenen kulturellen Kontexten stammen. Es lohnt sich daher, im methodischen Diskurs zwischen zwei Vorgaben des fiktionalen Textes zu unterscheiden: zum einen der pauschalen Aufforderung, das anschaulich Vermittelte auf der Bühne unseres Vorstellungsvermögens zu inszenieren (hier wirken die Differenzen), und zum anderen den für jeden einzelnen Leser verbindlichen Vorgaben, nach denen diese Inszenierung sich zu vollziehen hat.
(2)
Die Strukturierung des anschaulich Wahrgenommenen im Leseprozess ist in den letzten Jahrzehnten vielseitig bearbeitet worden. Fast immer wurde dabei die Frage nach der wahrnehmenden Instanz im Text diskutiert. Ein „auktorialer“ Erzähler trennte sich von einem „personalen“, und die Wahl des Personalpronomens spielte eine Rolle, mit dem auf die Hauptfigur Bezug genommen wird: Eine ich-Form und eine er-Form ließ sich unterscheiden, ja sogar die du-Form war nachweisbar z. B. in Christa Wolfs Kindheitsmustern. Von „Bauformen des Erzählens“, von „Erzählhaltungen“ oder gar vom „Formenkreis des Erzählens“ war die Rede. Diese Struktur-Varianten gelten gemeinhin als überzeitlich, erwachsen aus dem Wesen der Literatur und den Gesetzmäßigkeiten der Sprache.
Im Folgenden werde ich von der Annahme ausgehen, dass die jeweils bevorzugte Verwendung bestimmter Erzählformen durch die Gesellschaftsgeschichte und die Evolution des menschlichen Bewusstseins bestimmt wird – Entwicklungen, in denen die Literatur selbst eine Doppelrolle spielt: als eingreifender Faktor und als Medium der Dokumentation. Ein Strang der Literaturentwicklung ist für uns heute besonders bedeutungsvoll: die Tendenz zum monozentrischen Text, der in der abendländischen Literatur etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu beobachten ist. Mit „monozentrisch“ meine ich die Bindung der Wahrnehmung an eine und nur eine Figur im Text.
Jenseits dieser beiden Hypothesen möchte ich noch eine Beobachtung zu dem Streukreis meiner Themastellung vorausschicken: Wir leben in einer Zeit, in der ganz verschiedene wissenschaftliche Disziplinen sich aufeinander zu beziehen beginnen. Es lohnt es sich auch für die Textwissenschaft, Seitenblicke auf andere anthropologisch engagierte Wissenschaften zu werfen.
I
Raum ist eine Bedingung der Anschaulichkeit, ebenso wie die Zeit. In der Tat geht es im Folgenden immer auch um Zeitverhältnisse, aber der Raum ist, wenn es um Anschaulichkeit geht, zur Leitkategorie geworden.
Um die komplexe Argumentlage überschaubar zu machen, unterscheide ich zwei Verfahren sprachlicher Raum-Erzeugung und –Strukturierung. Das eine besteht in der Benennung und Verknüpfung von Objekten, das andere in der Perspektivierung des Raums durch die Instanz, von der die Objekte wahrgenommen werden. Das kann, wie sich zeigen wird, entweder der Erzähler selbst sein oder eine der Figuren im Text – oder beides abwechselnd. Das erste der beiden Verfahren ist das ältere, das umfassendere und unvergleichlich vielfältigere, es ist so alt wie das Erzählen selbst. Das zweite ist irgendwann im Laufe der Literaturgeschichte entstanden, hat sich dynamisch entwickelt und entwickelt sich immer noch weiter fort – ein offenes System.
Was es mit den zwei Verfahren der Raumerzeugung auf sich hat, möchte ich Ihnen an den Anfangspassagen zweier berühmter deutschsprachiger Romane zeigen, die im Abstand von nur wenigen Jahrzehnten entstanden sind.
Zuerst der Anfang von Theodor Fontanes Effi Briest (1884):
In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses von Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen, weißgestrichenen Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder vergoldeten Wetterhahn aufragte.
Alles in diesem Bildausschnitt hat seinen ‚objektiv’ bezeichneten Platz. Von dem zuerst benannten Objekt aus, dem „Herrenhaus von Hohen-Cremmen“, erhalten alle anderen ihren Platz zugewiesen: „Dorfstraße“, „Park“ und „Garten“, „Seitenflügel“, „Fliesengang“ und „Rondell“ usf. All das wird durch Präpositionen, Adverbien, ja sogar durch eine Maßangabe („einige zwanzig Schritt“) zueinander in Beziehung gesetzt.
Nun gibt es bei genauerem Hinsehen zwei Arten von Objekten: zum einen die Objekte der äußeren Wahrnehmung, die ‚raumerfüllenden’ Objekte. Sie können einfach aufgezählt, sie können funktional verbunden, sie können dadurch in Beziehung gesetzt werden, dass eine Figur an ihnen vorbei geht, usf. In unserer Passage fügen sich die benannten Dinge zu dem Ensemble eines ‚ländlichen Anwesens’ zusammen. Diese Objekte haben selbst räumliche Ausdehnung und sind daher in der Philosophiegeschichte griechisch phainomena, lateinisch res extensae genannt worden. Zum anderen gibt es Objekte, die nur im menschlichen Bewusstsein auftauchen, sogenannte ‚abstrakte’ Begriffe – die noumena bzw. res cogitatae oder, wie sie in der Theorie der sprachlichen Pragmatik heute genannt werden, die „mentalen Objekte“. Deren Möglichkeiten, sich untereinander zu verbinden und Syndrome von Bedeutung zu bilden, dürften noch wesentlich weitreichender sein als die Verknüpfung der raumerfüllenden Dinge. Die Benennung beider Objektarten kann sich überlagern. Ein Beispiel dafür findet sich auch in unserer Beschreibung von „Hohen-Cremmen“, wo zwischen die raumerfüllenden Dinge ein Herrschername eingesprengt ist, „Kurfürst Georg Wilhelm“, der dem Sichtbaren eine Wissenspartikel hinzufügt, den Traditionshintergrund des Anwesens. Was wir sehen, ist auf diese Weise als ein Besitztum preußischen Landadels charakterisiert.
Ein Ergebnis ist daher schon jetzt festzuhalten: Da uns im Leseakt auch der reale Raum nur mental, als Vorstellung gegeben ist, verliert hier die auf Platon zurückgehende Unterscheidung zwischen phainomena und noumena, zwischen (sinnlich) Wahrgenommenem und mental Erzeugtem, ihre Trennschärfe. Der Raum, den der fiktionale Text erzeugt, ist eo ipso ein Raum in uns, ein Raum, der sich nur im individuellen Leserbewusstsein realisiert.
Das zweite Verfahren:
In der Anfangspartie von Effi Briest hat die Texthandlung noch nicht begonnen, es gibt noch keine Figur im Textraum, mit der zugleich wir die Szenerie wahrnehmen könnten. Wer ist es dann, dessen Blickbewegung wir folgen? Kein Zweifel: Der ‚Erzähler’! Aber wo befindet sich diese anonyme Instanz, die uns „Hohen-Cremmen“ gegenüberstellt? Außerhalb der Szene, möchte man sagen, also außerhalb des Textraums als Ereignisraum. Aber, heißt das auch: außerhalb des Textes? Nicht ganz. Die Beschreibung von „Hohen-Cremmen“ ist im Tempus der Erzählung, dem Imperfekt, gehalten. Was wir sehen, ist der Ort eines Erzählgeschehens, auf das der Erzähler zurückblickt und das er uns – in der entspannenden Gewissheit, dass es sich um Vergangenes handelt – mitteilt.
Ich zeige Ihnen jetzt eine zweite Textpassage, den Anfang von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929).
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den anderen, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahr mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle.
Was unterscheidet diesen Anfang von dem von Effi Briest? Eigentlich nur, dass wir zugleich mit den Raumverhältnissen auch eine Figur sehen, die – offenbar von sich selbst – mit „Franze“ angeredet wird. Wie aber bekommt das Ganze, einschließlich „Franze“, seine Sichtbarkeit? Ist es nicht auch hier der Erzähler´’, der für die Sichtbarkeit sorgt und den Dingen einfach nur eine menschliche Figur – als ein raumerfüllendes Objekt unter anderen – hinzufügt? Nein. Ich behaupte, dass das die Räumlichkeit dieser Szene von der darin befindlichen Figur aus wahrgenommen wird. Die Erzeugung der Raumverhältnisse geschieht hier in einem kombinierten Verfahren, nämlich zum einen durch Benennung der Objekte, aber zugleich so, dass die Raumkonstruktion unmittelbar auf eine Figur im Text als Subjekt der Wahrnehmung bezogen ist.
Ich zeige Ihnen jetzt den gleichen Text noch einmal, verändert durch einzelne Hervorhebungen darin.
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den anderen, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahr mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle.
Die häufigsten Hervorhebungen im Text betreffen die Erzeugung des Erzähltempus, alle Präteritum-Formen bzw. -Infixe im Text. Das ist unproblematisch und ich habe diese Elemente nur markiert, um ihre Zugehörigkeit zum „Zeigfeld“ der Sprache zu sichern. (Zu diesem Begriff später mehr.) Das Gleiche gilt für den Vokativ „Franze“.
Ich beziehe ich mich zuerst auf eine Markierung, die ich unterlassen habe. In der Passage, die Sie vor Augen haben, kommt das Wort „vorbei“ zweimal vor, als „vorbeifahren“ und weiter unten als „an ihm vorbei“. Nur das erste Vorkommen habe ich markiert. Die Wendung „an ihm vorbei“ könnte auch aus der Wahrnehmung eines Dritten, des Erzählers, gemacht sein. Das ist bei der Wendung „er ließ …. vorbeifahren“ nicht möglich. Das „vorbei“ ist hier auf den bezogen, der „Elektrische auf Elektrische“ an sich selbst vorbeifahren lässt. Analoges gilt für „jetzt“. Es bezeichnet den Zeitpunkt der Gegenwart vom Standpunkt dessen aus, der als Wahrnehmend-Erlebender eingeführt ist. Das „jetzt“ ist hier kein Erzähler-„jetzt“, sondern ein Figuren-„jetzt“ im Raum-Zeitkontinuum des Textgeschehens…. Kommen wir zu dem „drin“, das die Kurzform für „darinnen“ ist. Es markiert ein innen/außen-Verhältnis, wobei die Position des Wahrnehmenden gerade nicht innen, bei den anderen, sondern außen, also allein ist. Diese innen/außen-Unterscheidung kann nicht ohne Bezugnahme auf die augenblickliche Position des Wahrnehmenden vollzogen werden. Heikel sind die beiden Vorkommen von „hinten“. Eigentlich realisiert das Wort das Schema der ‚Seitigkeit’ des menschlichen Körpers, das durch die Opposition vorn/hinten erzeugt wird. „Hinten“ wäre dann die Seite, die „hinter dem Wahrnehmenden“ liegt. Das kann hier nicht gemeint sein. Ich verstehe daher das „hinten“ daher als Markierung der Ferne-Position in Bezug auf den Wahrnehmenden, also als ‚dort hinten’, wobei sich eine objektbezogene Bedeutung einmischt: „im Hintergrund dessen, was ich wahrnehme“; auch die Bedeutung „dort, hinter dem Gefängnisbau, der jetzt zwischen mir und den anderen liegt“ klingt darin an. (Denken Sie auch an den Sprachgebrauch bei Raum- und Bildbeschreibungen, wo das, was sich „im Hintergrund“ befindet, vom Betrachter als weiter entfernt erfahren wird als der Vordergrund.)
Kein Zweifel, die Figur, „Franze“, ist es, von der diese Szene der Entlassung aus dem Gefängnis erlebt wird und die sich selbst anredet. Sie ist es, die als Subjekt der Wahrnehmung fungiert.
Bei allen größeren Textgebilden durchdringen und ergänzen sich eine objektbezogene und eine subjekthaft perspektivierte Anschaulichkeit gegenseitig. Wie Fontanes Text von orientierenden Prozeduren durchsetzt ist, sobald die Figuren der Handlung darin auftauchen, zueinander sprechen und miteinander agieren, finden sich in Döblins Text lange Passagen, in denen allein die Benennung und Verknüpfung der Objekte für die Anschaulichkeit des Erzählten sorgt. Die Figuren, von denen aus und auf die bezogen orientiert wird, können wechseln. Nur in konsequent monozentrischen Texten, wie es etwa die Romane Franz Kafkas sind, geschieht die subjekthafte Orientierung in Bezug auf eine einzige, die Hauptfigur, die dann als Aspektfigur des Ganzen fungiert. (Auch darauf ist noch einzugehen.)
II
Mit dem letzten Textbeispiel habe ich versucht, Sie auf eine bestimmte Sequenz von Textsignalen aufmerksam zu machen, die – unabhängig von den Wortbedeutungen und Satzaussagen – unsere Wahrnehmung im Textraum steuern. Ich habe das mit der Hypothese verknüpft, dass es sich lohnt – auch und besonders beim Sprechen über fremdkulturelle Lektüren -, den Diskurs mit der Herausarbeitung dieser Signalsequenzen zu beginnen, da sie einer sprachanalytischen Klärung zugänglich sind und die Fragen der Textbedeutung oder Textintention, also der sogenannte „hermeneutische Diskurs“, erst einmal aufgeschoben bleibt. Das Kalkül dabei: Wenn man sich darüber verständigt hat, von wo aus im Text man gemeinsam blickt, kann man sich entspannter darüber verständigen, was das Gesehene jedem einzelnen Leser bedeutet und was davon konsensfähig ist.
Was aber hat es mit diesem zweiten ‚sprachlichen Verfahren’ auf sich? Handelt es sich um eine Sprachverwendung, die wir nur in fiktionalen Texten antreffen? Ist die Perspektivierung des Raums durch Sprache eine Kunstform? Nein, es handelt sich um Möglichkeiten der Sprachverwendung, von denen wir – gezielt und planvoll – jederzeit auch im Alltag Gebrauch machen.
Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der sprachlichen Orientierung im Raum beschäftigt und die gegenwärtig eine bemerkenswerte Konjunktur hat, ist die linguistische Teildisziplin der Pragmatik. Sie hat in den USA eine starke Tradition – von dem philosophischen Pragmatiker Charles Sanders Pierce über Pragma-Linguisten wie John L. Austin und John Searle bis zu dem „Intentionalisten“ Paul Grice, während auf deutscher Seite vor allem Karl Bühler und Konrad Ehlich zu nennen sind. Aber das wichtigste Motiv dafür, dass ich hier bei Ihnen ausgerechnet das sprachliche ‚Zeigen’ zum Thema mache, liegt darin, dass der Akt des Zeigens im letzten Jahrzehnt nicht nur von der Linguistik, sondern auch von der philosophischen Anthropologie, der Verhaltensforschung, der Hirnphysiologie, ja sogar von der Primatenforschung aufgegriffen und bearbeitet worden ist – eine Kooperation deutet sich an, von der auch die Textwissenschaft profitieren kann.
Nun ist es unmöglich, im Rahmen meines Vortrags eine Einführung in die „gestische Kommunikation“ insgesamt zu geben. Dazu ist die Literatur darüber noch zu weit aufgefächert. Um diese Aporie möglichst klein zu halten, habe ich mich zu zwei kompensierenden Maßnahmen entschlossen: Zuerst beziehe ich mich kurz auf die zeitlich/räumlich orientierenden Worte, das sprachliche „Zeigfeld“ im Deutschen (Position 4 des Handout), danach versuche ich zu erläutern, wie es kommt, dass der Akt des Zeigens heute für so verschiedene Disziplinen interessant ist.
Eine Begriffsklärung vorweg: Karl Bühler hat in den Diskurs der sprachlichen Deixis einen neuen Begriff eingeführt, den der Origo (lat. Ausgangspunkt). Er bezeichnet damit den ‚Ausgangspunkt des Zeigeakts’, den Punkt also, der die Position des Sprechers im Augenblick des Sprechens markiert. Da dieser Punkt aber nicht allein eine Raum-Marke, sondern zugleich eine Zeit-Marke ist und da es das Subjekt des Sprechakts ist, in dem die Position sich realisiert, hat Bühler das Zusammenfallen dieser drei Markierungen ich-jetzt-hier mit dem Ausdruck Origo belegt.
Alle sprachlichen Ausdrücke, die zum „Zeigfeld“ gehören, lassen sich als Bezugnahmen auf eben diese Origo definieren. In meiner Übersicht kommt der Ausdruck Origo zweimal vor, einmal unter I, wo es um die reine, die abstrakte Origo geht, und einmal unter II, wo die Bezugnahmen nicht einer abstrakten „Position in Raum und Zeit“, sondern deren Verleiblichung in Gestalt des menschlichen Körpers gelten: Da unser Körper durchweg zweiseitig-symmetrisch angelegt ist, kommen hier die Unterscheidungen oben/unten, vorn/hinten, rechts/links, innen/außen ins Spiel. Darüber, ob diese „verleiblichte Origo“ dem „Zeigfeld“ zuzuordnen ist, besteht noch keine Einigkeit unter den Deixis-Spezialisten. Da sie aber in literarischen Texten in großer Häufigkeit vorkommen, habe ich sie in meine Übersicht aufgenommen.
Die sprachlichen Orientierungen in Raum und Zeit (Das „Zeigfeld“ im Deutschen)
I. Die Bezugnahmen auf die Origo
1. Die Unterscheidung der Partner im Orientierungshandeln:
-
der Sprecher: ich, mein, samt den Personalmorphemen der ersten Person Singular: z. B. ich komme,
-
der/die Adressat(en): du/ihr, dein/euer samt den Personalmorphemen der zweiten Person, z. B.: du kommst, der Anrede-Form (Vokativ), z. B.: Lieber Freund! und der Befehlsform (Imperativ), z. B.: Komm, kommt!,
2. die Aktivierung der Nähe-Ferne-Relation in ihren verschiedenen Ausprägungen:
-
die Unterscheidung von Nähe und Ferne im Raum: hier/dort bzw. da (etymologisch von dem zeitlich orientierenden da zu trennen),
-
die Unterscheidung von Nähe und Ferne in der Zeit: jetzt/nicht jetzt (damals/da) samt den Flexionsmorphemen der Vergangenheit (z. B. ging, sagte),
-
die Zuordnung eines Objekts zu Nähe oder Ferne: dieser, -e, es,/ jener, –e, -es; hiesig/dortig,
-
die Aktivierung unbestimmter Ferne-Orte in Raum und Zeit: irgendwo, nirgendwo, anderswo bzw. irgendwann, niemals,
3. die Unterscheidung der Bewegungsrichtung auf den Sprechenden zu oder von ihm weg, die auf zweierlei Weise realisiert wird:
- durch die Richtungsbezeichnungen hin/her (hinauf/herauf, hinein/herein, hinunter/herunter, hinüber/herüber; hingehen/herkommen, hin- und herfahren, hinblicken/herblicken usf),
- durch die beiden Verben der Bewegung, die ausschließlich und unmittelbar auf die Position des Sprechenden Bezug nehmen: kommen – gehen (beschränkt auf die Bedeutung `weggehen´),
4. die Konstatierung der Anwesenheit/Abwesenheit von jemand oder etwas im Nähe-Bereich durch die Adverbien da anwesend/vorhanden) vs. weg (abwesend/nicht vorhanden).
II. Die Bezugnahmen auf die `Seitigkeit´ meines Leibes (die verleiblichte Origo):
- oben/unten mit den Richtungsangaben aufwärts/abwärts,
- vorn/hinten mit den Richtungsangaben vorwärts/rückwärts (der Ausdruck zurück, verwendet gewöhnlich in Verbindung mit `kommen´ oder `bleiben´, gelegentlich auch mit `sein´, könnte auch bei I eingeordnet werden),
- rechts/links mit den Richtungsangaben nach links/nach rechts bzw. links herum/rechtsherum (im Unterschied zu den objektsbezogenen Ausdrücken wie „bergauf“, „flussabwärts“),
- innen/außen
Wir können auf dieses Schema in der Diskussion zu sprechen kommen. Eine ausführliche Erörterung dieser Systematik und Hinweise zur einschlägigen Literatur finden sich übrigens in meinen zwei Monographien zu diesem Thema:
D. K.: Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt, 2000, und
D. K: Das Ich-Programm. Ein Versuch zur Ersten Person, 2009.
Die dort erörterten Details brauchen uns hier nicht weiter zu interessieren. Jetzt- hier geht es darum, plausibel zu machen, warum der Zeige-Akt auch für andere wissenschaftliche Disziplinen von Interesse ist.
Ich beginne mit der Wahrnehmungspsychologie.
Wenn ich auf etwas zeige, errege und steuere ich die Aufmerksamkeit meines Gesprächspartners, mit dem Ziel, seine und meine Aufmerksamkeitsrichtung zusammenzuführen. Der Verblüffende daran: Die Abstimmung der Wahrnehmungsrichtung, das Zusammenfinden der Verständigungspartner in einem gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit, geschieht in der Regel verblüffend schnell, widerstandslos, fast ist man versucht zu sagen: spontan. Offenbar besteht bei allen Menschen eine große, jederzeit abrufbare Bereitschaft dazu, sich der Blickeinstellung des Partners anzuschließen. Was zugleich heißt: auch mit einem Wechsel der Blickrichtung und sogar ohne dass der Kopf sich bewegt, kann man ‚zeigen’. Diese Beobachtungen haben zur Theorie der „Spiegelneurone“ geführt.
Die folgenden Zeilen zitiere ich aus: Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst:
Das optische Aufbereitungs- und Interpretationssystem (…) achtet nicht nur auf die Blickbewegungen der Menschen um uns herum, sondern sorgt dafür, dass wir, in einer wiederum spontanen und intuitiven Reaktion, unsere eigenen Blickbewegungen danach ausrichten. Eine der häufigsten Reaktionen besteht darin, dass wir selbst in die Richtung sehen, in die ein anderer gerade blickt. Wenn jemand seinen Blick plötzlich, überrascht oder erschreckt, auf etwas richtet, schauen wir impulsiv auch selbst dorthin, und zwar simultan und vor jeglichem Nachdenken. Das spontane Einschwenken auf einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus, im Englischen als „joint attention“ bezeichnet, ist ein ständiges, fast unwiderstehliches Alltagsphänomen. Es gehört darüber hinaus zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Aufbau einer emotionalen Bindung. (Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst, München, Taschenbuchausgabe, 2006 ff., 54 f.)
Beobachtungen wie diese sind auch für die Theorie der Sprachentwicklung interessant – des Einzelwesens und der Gattung, also onto- und phylogenetisch. Dazu der Sprachentwicklungsforscher und Hirnphysiologe Ulf Liszkowski vom Max-Plank-Institut in Nijmwegen:
Die Zeigegeste steht am Anfang der Kommunikation. (…) Wir lernen Kommunizieren nicht erst durch Sprache (gemeint ist: lautlich geäußerte Sprache, D. K.), sondern schon durch vorsprachliche Gesten. Sie schaffen im Bewusstsein eine Infrastruktur, die von der Lautsprache genutzt wird. (Vgl. M. Rowe/S. Golden-Meadow in: Science, Bd. 323, 951, Februar 2009 ((zitiert nach Kramer: „Gesten bahnen den Weg“, in: SZ vom 13. 2. 09))
Dass die Zeige-Geste geradezu als diejenige kommunikative Aktivität angesehen werden kann, die den Menschen aus dem Tierreich hervortreten lässt, hat Michael Tomasello in seinem kürzlich erschienen Buch Origins of Human Communication, 2008, nachgewiesen, das in der philosophischen Anthropologie großes Aufsehen erregt hat. Jürgen Habermas, der sein eigenes Werk zu großen Teilen der menschlichen Kommunikation gewidmet hat, hat Tomasellos Buch in der ZEIT besprochen und es „bahnbrechend“ genannt (DIE ZEIT, 2009, 51). Es geht bei Tomasello vor allem um die Zeigegeste des menschlichen Kleinkinds, und es sieht so aus, als spiele sie in der Entfaltung des gestischen Repertoires des Kleinkinds eine zentrale Rolle: als sei die Fähigkeit einer ‚positionellen’ Teilnahme am Verständigungsprozess, eine Grundbedingung aller menschlichen Kommunikation, als beeinflusse sie die Sprachentwicklung des Individuums insgesamt, ja, als entscheide ihre Entfaltung darüber, wie sich das Sprachvermögen insgesamt ausbaut. Er versucht nachzuweisen, dass sich im Zeigeakt das verdeutlicht, was das Besondere an der menschlichen Kommunikation insgesamt ausmacht: Mit dem Zeigen, so Tomasello, komme die kooperative Kommunikation in die Welt, die den Tieren fehlt. Ja, er geht so weit zu behaupten, dass diese „selbstlose“ Art des Kommunizierens dem Menschen als Spezies zugewachsen ist, so dass schon ein Kind mit rund 12 Monaten darüber verfügt.
Was aber ist es, das dem Menschenkinde offenbar zur Verfügung steht, während es allen anderen tierischen Spezies fehlt? Wie können wir uns einen Begriff davon machen, wie es dazu kommt, dass ein 12 Monate altes Menschenkind einen Kommunikationsakt auszuführen vermag, indem es dabei von sich selbst ausgeht – als einer Position im Raum ausgeht?
In seinem Buch „The Feeling of what Happens“ (1999) bearbeitet Antonio R. Damasio, Direktor am Brain and Creativity Institut of the University of Southern California, die Frage, wie es zu der menschlichen Fähigkeit des Selbstbezugs kommt, die den Tieren fehlt. Er geht von der Selbstwahrnehmung aus, von der alle Art von Selbstbezug ihren Ausgang nimmt, und die erste Art von Selbstwahrnehmung ist die Wahrnehmung des eigenen Körpergefühls. (Der deutsche Titel seiner Arbeit heißt daher auch: Ich fühle, also bin ich). Daraus, dass Damasio die Selbst-Wahrnehmung zur Leitkategorie der Evolution des Menschentiers zum Menschen macht, ergibt sich eine ganze Folge-Kette: Dass der Mensch als einziges Lebewesen die Begrenzung auf den eigenen Körper realisiert und so eine Trennung von außen und innen herstellt. Daraus wiederum folgt, dass er sich selbst als Bezugspunkt aller bewussten Wahrnehmungen auch „im Außenraum“ zu begreifen lernt. Das aber wäre für die Kommunikations- und Sprachtheorie bedeutungsvoll. Ergäbe sich doch daraus, wie es zur Bildung der Origo kommen konnte – dieser im Tierreich einzigartigen Fähigkeit, die eigene Position in Raum und Zeit zum Ausgangspunkt eines kommunikativen Aktes zu machen.
Was Damasio vorträgt, betrifft unser Thema aber noch in einer anderen Weise. Die Schärfung des Gefühls und des Bewusstseins für die eigene Position bringt unweigerlich eine stärkere Wahrnehmung der eigenen – zuerst ganz körperlich zu begreifenden – Individualität mit sich. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Objekte der Außenwelt „im Inneren zu repräsentieren“. Das Produkt dieser Ver-Innerlichung nennt er „Vorstellungen“ – und die Vorstellungsbildung, so Damasio, wird zu der für den Menschen charakteristischen Tätigkeit. Ja, wir Menschen erzeugen diese „Vorstellungen“ nicht nur aus Anlass von aktuellen äußeren Wahrnehmungen, sondern auch in Verarbeitung von früheren Wahrnehmungen, die wir in unserem Gedächtnis gespeichert haben. Und, so setze ich hinzu, aus Anlass von Lektüren, die unser Anschauungsvermögen stimulieren. Diese innerlich erzeugten „Repräsentationen“ von Ausschnitten der Wirklichkeit, die uns allen gemeinsam ist, haben ein hier relevantes Merkmal, sie gehören nur dem, in dessen Bewusstsein sie sich herstellen. In den Worten Damasios: „Bewusste Vorstellungen sind nur in der Perspektive der ersten Person zugänglich.“ (381)
Diese Bemerkung scheint mir besonders bemerkenswert. Nicht nur ihres Inhalts wegen, sondern auch deshalb, weil sie von einem Naturwissenschaftler kommt. Dabei wäre es doch, scheint mir, eine Sache der Sprach- und Literaturwissenschaft gewesen, zwischen Aussagen zu unterscheiden, die in der dritten, und solchen, die nur in der ersten Person gemacht werden können. Nur wenn man über diesen Unterschied nachdenkt, wird einem klar, wie bedeutungsvoll und folgenreich es war, dass die Literatur diese Grenze seit eh und je nicht eingehalten hat. Das sogenannte Erzähler-Privileg bedeutet nicht anderes als die „Vorstellungen“ eines anderen, seiner Figur, in der dritten Person zu formulieren.
III
Damit sind wir bei dem Problem angelangt, das von der abendländischen Literatur von Anfang an bearbeitet worden ist: die Innerlichkeit einer erzählten Figur in Sprache zu bringen. In einem der beiden Epen, die man Homer zuschreibt, der Odyssee, wird das Innere des Helden zu einem zentralen Thema: also nicht nur das, was er als Held getan und als irrender Seefahrer erlebt hat, sondern auch seine Reaktionen auf das Außengeschehen, die „innere Verarbeitung“ seines Schicksals – seine eigenen Vorstellungen.
Der Königsweg zum Inneren des Helden ist, ihn selbst sprechen zu lassen. Odysseus wird im Rahmen des epischen Ganzen, das der Sänger vorträgt, zum ich-Erzähler (Gesänge 9 bis 12). Damit ergibt sich, sozusagen naturwüchsig, ein Blick in die Vorstellungswelt der erzählten Figur. Das andere Verfahren entspricht dem der Erzeugung von Raumvorstellungen in der Außenwelt mit Hilfe der Benennung und Verknüpfung von Objekten: Der Erzähler benennt und verknüpft die ‚inneren Objekte’, also Bewusstseinsinhalte der Figur. So können Affekte, Antriebe, Emotionen konturiert und zu Quasi-Objekten geballt werden. Besonders berühmt geworden ist die „Menis“, der „Groll“ des Achill in der Ilias – schon deswegen weil das Epos mit diesem Wort beginnt. Der homerische Sänger beschreibt die inneren Regungen seiner Figuren aber auch so, wie sie sich körperlich-innen anfühlen: „Da brannte ihm die Leber“ oder „Da lösten sich ihm die Knie“. (Damasio spricht in diesem Zusammenhang von „visceralen“ und „muskulär-motorischen“ Innenwahrnehmungen, die er den frühesten Selbstwahrnehmungen zurechnet.) Aber schon in Ilias und Odyssee deutet sich das Verfahren an, das über weite Strecken der europäischen Literaturgeschichte am erfolgreichsten geworden ist: das Gedanken-Zitat bzw. das Gefühlsprotokoll, markiert gewöhnlich durch: „… dachte er…“, „… fühlte sie…“.
Bei diesem Repertoire blieb es lange. Denn es zeigte sich, dass auch die extremen Charakteristika der Hauptfiguren sich mit diesen Mitteln hinreichend darstellen lassen: Furchtlosigkeit bis zur Raserei, Leidensbereitschaft bis zum Tod, Eifersucht bis zur Mordlust, die Furien des Wahnsinns, die unstillbaren Schmerzen des einsamen Verbannten usf. All das konnte das Publikum an den Helden und Heroinen der Antike ebenso ablesen wie an denen der mittelalterlichen Epen. Der Sänger bzw. der Erzähler sorgte aber dafür, dass derlei Extreme als solche zu bewerten waren, indem er sie mit hinreichend viel Normalität umgab. Die Innenwelt der Helden und Heroinen blühte auf im Kontrast zur menschlichen Durchschnittlichkeit.
Am Beginn der Neuzeit steht ein Roman, der schon damals ein ungewöhnliches Interesse erregt hat und im Rückblick immer noch bemerkenswerter wird. Ich meine den Don Quijote des Cervantes (erschienen 1604 ff). Ich behaupte nicht, dass Don Quijotes Wahnsinn größer, exzessiver ist als der anderer wahnsinniger Helden vor ihm. Was aber auffallen kann, ist, dass die phantastische Welt, die nur im Kopf des Helden existiert, einen erstaunlich großen Raum im Text eingeräumt bekommt – und dass es eines Begleiters bedarf, der vermittelnd wirkt: Sancho Pansa. Er repräsentiert das Realitätsprinzip, eigentlich eine Funktion des Erzählers – und der Leser hat die moderierenden Einlassungen des Sancho Pansa bitter nötig, wenn er nicht von der Wahnwelt des „Ritters von der traurigen Gestalt“ abgestoßen oder überrannt werden soll.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts dann beobachten wir in der europäischen Literatur das Aufblühen des sogenannten Briefromans. Schon seit der Renaissance war der Brief als Ausdrucks- und Kunstmittel beliebt geworden: Er ermöglichte es, sich kunstvoll-gelehrt und zugleich persönlich-privat auszudrücken. Der Briefschreiber sagte „ich“. Dieses „ich“ war – zum ersten Mal in der Literaturgeschichte – der Sprecher (Schreiber) des Ganzen. Eben diese sprachliche Variante ermöglichte es Richardson in seiner Pamela (1741), Rousseau in seiner Nouvelle Heloise (1761), Goethe in seinem Werther (1774), das innere Erleben der Hauptfiguren als Selbsterfahrung zu formulieren. Bevorzugte Inhalte waren die bis dahin eher abgeschattete Selbsterfahrung der Frau und die Liebe als Passion. Der Briefroman hatte zweierlei Adressaten, das du des Briefempfängers und den Leser, der in dem Partner-du des Empfängers gleichsam Unterschlupf fand. So ließen sich auch Vorstellungswelten, die als extrem, exzessiv, ja indiskret erscheinen konnten, im Schutz der Intimität des Partner-Du öffentlich machen
Aber auf die Spitze getrieben wurde die Individualisierung der Textwelt nicht in der ich-Erzählung, sondern in einer anderen Art textlicher Perspektivierung.
Damit komme ich auf meine Hypothese (2) zur Literaturgeschichte zurück. Der literarische Wandel, von dem die Rede sein soll, ist nicht ein Wechsel von einer „Form“ zu einer anderen im zeitlosen „Formenkreis des Erzählens“ (im Sinne von Franz Karl Stanzel), sondern eine Reaktion auf eine Entwicklung in der abendländischen Gesellschafts- und Bewusstseinsgeschichte, die schon sehr früh, aber langsam angelaufen ist, sich aber dann, etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts in den Epochen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang beschleunigt hat – er folgt dem Bedürfnis, die Verschiedenheit menschlicher Vorstellungswelten zu modellieren, bis hin zur ihrer Unvereinbarkeit.
Als Gustave Flaubert (1857) seine Madame Bovary veröffentlichte, wurde er der Verherrlichung des Ehebruchs und damit der Unzucht angeklagt. Flaubert gab sich, wie wir heute sagen würden, cool. Er ließ seinen Anwalt sagen, dass er keineswegs den Ehebruch Emmas verherrlicht, sich vielmehr jeder Meinung dazu enthalten habe, in seinem Buch stehe nur, was Emma Bovary empfunden und gedacht habe. Der Staatsanwalt, der Richter, das Publikum staunten. Man las noch einmal, Köpfe wurden gewiegt – und Flaubert freigesprochen. Es ging, so musste man einräumen, in den entscheidenden Passagen (zum Beispiel in der berühmten Spiegelszene, in der Emma ihre ‚Verschönerung’ durch die Existenz eines Liebhabers bestaunt) nur um die Selbsterfahrung Emmas. Von dem neuartigen Erzählmittel, der „erlebten Rede“, ist freilich im Urteil nichts zu sehen, und auch Flaubert benutzte diesen terminus technicus nicht.
Ein weiterer Versuch in dieser Richtung ist die Langerzählung Leutnant Gustl (1901) von Arthur Schnitzler – ein Experiment, das kaum Nachahmer gefunden hat: ein Text, der vom ersten bis zum letzten Wort von einem „inneren Monolog“ ausgefüllt ist. Auch hier gilt: Kein Erzähler formuliert und garantiert die Welt der Normalität gegenüber dem ich-Wahn des Protagonisten.
Am konsequentesten wurde der Typus des monozentrischen Textes, der nicht ich sagt, von Franz Kafka ausgebildet und in der Weltliteratur etabliert.
In Madame Bovary konnte der Erzähler noch Szenen einführen, die außerhalb der Wahrnehmung der Hauptfigur liegen, nur die Umstände des Ehebruchs und dessen Bewertung unterliegen ihrer Sicht und Bewertung allein. Bei Kafka dagegen vollzieht sich eine Verschränkung von Erzähler- und Figurenfunktion: Der Erzähler, der Sprecher des Ganzen, führt eine Figur ein, indem er sie benennt, agieren und sprechen lässt, so wie in „auktorial“ erzählten Texten auch, aber die Sicht auf die Ereignisse entspricht der einer ich-Erzählung. Der erste Satz des Prozess-Romans lautet: „Jemand musste Joseph K. verleugnet haben.“ – die Transformation von „Jemand muss mich verleugnet haben.“ Die Form der erlebten Rede ist in diesem Satz auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen. Erst im Weiterlesen kann ich mir als Leser klarmachen, dass es die Vorstellungswelt der Figur ist, die der Erzähler in Sprache bringt. Ein eigenartiger Effekt: Etwas, das, wie Damasio sagt, „nur in der ersten Person“ zu sagen ist, wird in der dritten Person gesagt – und damit so behandelt wie ein Objekt. Nun merke ich als Leser zwar, dass der Erzähler damit an den Inhalten des Selbsterlebens der Figur nichts ändert, und doch geschieht etwas außerordentlich Folgenreiches: Die sogenannte ‚Subjektivität’ der Vorstellungswelt der Figur erhält in der Um-Formulierung zur Erzähleräußerung etwas ‚Objektives’. Der Sprecher des Ganzen macht aus den Vorstellungen der Figur eine Realität – was bei der Unwahrscheinlichkeit dessen, was Joseph K. erlebt, für mich, den Leser, eine Zumutung, ja eine qualvolle Belastung wird.
Die konkreten Merkmale dieses ästhetischen Verfahrens möchte ich Ihnen am Beispiel des Prozess-Romans vor Augen stellen.
In diesem Text kann nichts erzählt werden, was nicht in Gegenwart und im Wahrnehmungsbereich der Hauptfigur geschieht. Die sichtbare Welt endet dort, wo der Blick K.s nicht hinreicht. Wenn es Joseph K. schwindlig wird und sein Bewusstsein sich trübt, wie im Vorraum des „Dachbodengerichts“, reißt mit der Wahrnehmung der Figur auch der Erzählfaden. Auch die Text-Zeit ist eingeschränkt. K. findet keinen Anlass, sich an irgendetwas, das dem aktuellen Geschehen vorausliegt, zu erinnern – und der Erzähler denkt nicht daran, das zu kompensieren. Der Anfang des Textes ist ein absoluter Anfang. Daher hat Joseph K. auch keine Biographie – wie Karl Roßmann in Amerika sie in Spurenelementen noch hat! Hätte Joseph K. eine Vorgeschichte, würde das die Hermetik des Textraums aufbrechen. Stellen Sie sich vor, wir würden erfahren, dass Joseph K.s Vater Bäckermeister war und seine Mutter Klavier spielte! Nein, Joseph K. kann keinen sozialen Hintergrund haben, er ist eine absolute und damit absolut isolierte Figur. Alles, was wir über die Mitfiguren erfahren, sind die Wahrnehmungen (und daran anschließenden Vermutungen) Joseph K.s – mit Ausnahme der wörtlichen Reden der Mit-Figuren, die von K. gleichsam zitiert werden. Um diesen Unterschied in der Figurendarstellung zu markieren, spreche ich von der wahrnehmenden Figur einerseits, die ich auch Aspektfigur nenne, und von der Aspektfigur wahrgenommenen Figuren. Auf die Verteilung der Figuren um Joseph K. herum gehe ich nicht ein. Das ist eine Sache dessen, was wir Plot nennen. Anzusprechen ist dagegen eine Konsequenz der Ästhetik in dieser Textstruktur, die auch, aber nicht ausschließlich zum Plot gehört: Joseph K. trifft in der „Dachbodengerichtsbarkeit“ und in der Gestalt des „Geistlichen im Dom“ auf eine „Gegenwelt“ (der Ausdruck stammt von Martin Walser). Im Prinzip gehört sie ebenfalls zu seiner Welt, aber sie bildet einen Teil darin, der ihn bedroht, vor dem er flieht, den er ‚nicht sehen will’. Man könnte sagen: Dieser Teil seiner Welt wird von ihm verdrängt. Weder klärt sich, wer in wessen Auftrag gegen ihn ermittelt, noch wie es zu dem Todesurteil kommt. Was seinen Tod so katastrophal macht, ist daher beides in einem: dass er „von allen verlassen“ ist und dass er seinem Tod in so völliger Verständnislosigkeit begegnet.
Kafkas Welt – ohne die für ihn charakteristische Strukturierung des Textraums ist sie nicht denkbar. Aber ein Missverständnis wäre es anzunehmen, dass allein die Verschränkung von Figurenperspektive und Erzählerstimme die typische Kafka-Wirkung erzeugen. Ein Seitenblick auf einen anderen etwa zeitgleich entstandenen Roman genügt, um diese Annahme zu widerlegen: Auch im Zauberberg Thomas Manns geht die Origo im Text nach wenigen Passagen auktorialen Erzählens auf den Helden, Hans Castorp, über. Die individuelle Welt auch dieses Helden ist von Todesnähe überschattet, aber die existentiellen Krisen führen Castorp keineswegs in die Isolation. Der Erzähler sorgt dafür, dass wir, die Leser die ihn begleiten, hinreichend über seine Herkunft informiert sind – und die Welt, in der sein Schicksal sich vollzieht, ist durchaus nicht undurchsichtig, keineswegs, wir können darin unsere eigene wiedererkennen. Mit Hans Castorp sind wir als Leser nicht nur über die gemeinsame Blickeinstellung, sondern auch emotional und intellektuell identifiziert. Und doch – und doch lesen wir auch die Texte Kafkas begierig weiter! Unsere „Spiegelneuronen“ (wenn es denn so was gibt), das Bedürfnis, wissen zu wollen, was es mit dem Angeklagten und der „Dachbodengerichtsbarkeit“ auf sich hat, und die Hoffnung auf eine Lücke im tödlichen System halten uns in der Lektüre fest. Mindestens so fest, wie in der Lektüre des Zauberberg. Die Faszination des Sichtbar-Unbegreiflichen.
IV
Zwei Fragen, scheint mir, wären noch zu klären, die ich aber der allgemeinen Aussprache anheim stellen möchte:
(a) Wie kommt es, dass die ich-Form nicht dazu benutzt wird, die individuelle Welt in ihrer letzten Radikalität, in ihrer Unvermittelbarkeit zu gestalten?
(b) Gibt es unter den Romanciers des 21. Jahrhunderts Nachfolger Kafkas?
Da ich ein normal belesener Mensch bin, sage ich gleich, auf welche der heute aktuellen Romane ich mich vorbereitet habe: Jonathan Franzens Die Korrekturen (2002) und Jonathan Littells Die Wohlgesinnten (französisch: Les Bienveillantes, 2006).
Ich fasse zusammen:
Ich habe versucht, die Anschaulichkeit fiktionaler Texte vor allem vom Zeigfeld der Sprache her zu entfalten. Ich habe den Akt des Zeigens als eine Art Basis-Kommunikation beschrieben und ihm, was seine Verwendung im fiktionalen Text angeht, die Funktion einer primären Ästhetik zugeteilt. Meinen beiden Hypothesen folgend habe ich versucht, Ihnen die Beachtung des sprachlichen Zeigens als methodisch lohnend erscheinen zu lassen.
Ich konnte mich bei meinem Versuch auf neue und neueste Publikationen aus ganz verschiedenen Wissenschaften beziehen: Sprachpragmatik, Kommunikationstheorie, Entwicklungspsychologie, Primatenforschung und Theorie der Gehirnentwicklung.
Aber eben dadurch habe ich eine weiter ausgreifende Frage aufgeworfen: Wie kommt es, dass der menschliche Zeigeakt in so vielen verschiedenen Publikationen gerade jetzt behandelt wird? Zufall? Vielleicht nicht. Was sonst? Eine Vermutung will ich immerhin äußern:
Ich meine, dass die einzelnen anthropologisch engagierten Wissenschaften sich mit einer Herausforderung beschäftigen, die zunehmend als eine gemeinsame Herausforderung begriffen wird: den Menschen nicht aus der Statik des Geist-Begriffs zu verstehen, sondern ihn in seiner biologischen und kulturellen Evolution zu begreifen.