Der Philosoph und sein Löwe

ZU: Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Roman 2011 (Suhrkamp)

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Das Titelwort des Romans bezieht sich auf eine historische Figur, den Philosophen Hans Blumenberg (1920-1996), der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Gießen, Bochum und Münster gelehrt hat. Ein viel bewunderter und nicht immer leicht zu verstehender Philosoph, der manchmal etwas Seherisches, manchmal etwas Prophetisches hatte – und eine Schwäche für Löwen (vgl. H. Blumenberg: Löwen, 2001).

Das alles qualifiziert die Romanfigur „Blumenberg“ dafür, in seinem Arbeitszimmer eines Tages einen leibhaftigen Löwen liegen zu sehen, ruhig hingestreckt auf dem „Bucharateppich“ nahe der Wand, die Augen auf den Philosophen gerichtet. Dieser Löwe, der nur für Blumenberg wahrnehmbar ist (nicht nur sichtbar, sondern auch riechbar und tastbar), ist das Thema des Romans, genauer: die Beziehung zwischen den beiden. Überall, wo Blumenberg ist, und nur da, kann der Löwe sein, im Hörsaal, im Auto, auf Besuch bei einem Freund. Dass Blumenberg seinen Löwen hat – so real, dass die Pranke des Löwen ihn zuletzt töten wird -, gibt auch die Sprechlage des Buches vor: ein pathetisch-groteskes, erhabenes, nicht unironisches, facettenreiches, von Spracheinfällen und Sprachwitz funkelndes Register. Da es an die Relation Löwe/Blumenberg gebunden ist, kann es sich nur entfalten, wenn die Anschaulichkeit und die Reflexivität des Textes durch das Bewusstsein von Blumenberg mit Löwe bestimmt sind. Die Tonhöhe und Sprachvielfalt entspricht der Unauslotbarkeit der Beziehung. (Gleich auf der ersten Seite wird metaphysisch raunend angedeutet, dass Blumenberg „wußte, daß in Gestalt des Löwen eine außerordentliche Ehre ihm widerfuhr, (…) von langer Hand vorbereitet und nach eingehender Prüfung ihm gewährt“ (S. 9f.). Die zweite Folge des zentralen Motivs für den Text: Die Anwesenheit des Löwen schließt das Erzählen von mitmenschlichen Einbindungen der Hauptfigur (fast) aus, d. h. der Roman hat (fast) keine „Handlung“. Der Blumenberg im Roman lebt und stirbt kraft seines Löwen.

Der historische Blumenberg hatte Frau und Kinder, einer Tochter Blumenbergs, Bettina, ist das Buch gewidmet. Durch die vorangestellte Widmung ist der Gedanke an die Familie im Leser aufgerufen – an eine Familie, die ausgeblendet bleibt, aus Gründen der Diskretion ausgeblendet bleiben muss und in gewisser Weise auch fehlt. In den Leerraum, der durch die Abschattung der Familie erzeugt wird, treten fünf andere Personen ein: eine Nonne und vier SchülerInnen Blumenbergs. Sie alle, die Nonne am meisten, scheinen eine Ahnung von der Gegenwart des Löwen Blumenbergs zu haben. Diesen fünf Figuren ist daher auch das Privileg zugestanden, in der Todesnacht Blumenbergs in seinem Arbeits- und Sterbezimmer, das als „Höhle des Löwen“ fungiert, anwesend zu sein. Diese Figuren und deren jeweiliges soziales Umfeld bilden mein Leseproblem.

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Die Verknüpfung der fünf Rand- und Nebenfiguren mit Blumenberg ist fadendünn. Die Nonne Mehliss scheint ein Gottesverständnis zu haben, das dem Blumenbergs nahekommt, man könnte es metaphysisch-pragmatisch nennen, die vier SchülerInnen tauchen in der ersten Vorlesung Blumenbergs nach Erscheinen des Löwen auf, sie werden hintereinander weg aufgezählt und ihr Position im Hörsaal wird, mit Blumenberg als Referenzpunkt, genau bezeichnet: „Gerhard“, „Hansi“, „Richard“, „Isa“. Nur Gerhard bekommt einen Nachnamen, einen sehr kurzen, „Baur“, er ist von Blumenberg als Doktorand angenommen, und wir erfahren, dass er es über die Schülerrolle hinaus schafft – er wird selbst Philosophiedozent werden. Die andern drei leben und sterben als ihrem verehrten (bewunderten, gefürchteten, geliebten) Lehrer verfallene Schüler, Isa durch Selbstmord aus Liebeskummer. Damit ist auch gesagt: „Handlung“ als Figureninteraktion gibt es nur um Blumenberg und den Löwen herum. In der Tat, die Erzählerin hat ihnen allen eine Biographie zugestanden, die jeweils zu Ende erzählt wird – bis zum Tode, der für alle vorzeitig kommt. Nicht nur das, die Erzählerin hat ihnen allen auch ein eigenes Selbstbewusstsein zugeteilt, sie können sich selbst formulieren – ja diese Erzählmöglichkeit ist auch auf die Nebenfiguren zweiten Grades, das soziale Umfeld der SchülerInnen, ausgeweitet, z. B. auf die Mutter von Gerhard und den Vater von Isa. Diese skizzenhaften Bewusstseinswelten trennen sich scharf von der Welt Blumenberg mit Löwe – der gegenüber sie normal/trivial erscheinen. Das ist zu präzisieren: Nicht die Nebenfiguren „an sich“ sind normal/trivial; in einem anderen Kontext wären alle, Hansi, Richard, Gerhard, Isa, Romanfiguren, „wie man sie kennt“; aber in Strahlweite der übergroßen, überbedeutenden Gegenwart von Blumenberg mit Löwe leiden sie an chronischem Bedeutungsmangel. Muss man das so lesen/erleben?  Eigentlich könnte eine solche Differenz ja auch konstruktiv sein, indem sie als Kontrast wirkt und die idiosynkratische Besonderheit von Blumenberg mit Löwe umso strahlender hervortreten lässt.

Aber hier verweigert die Sprache sich der Erzählerin: Die „kleinen Welten“ im Text bilden kein Sprachregister aus, das sich neben dem Blumenberg/Löwe-Register hinreichend evident etablieren könnte! Die Fallhöhe, wenn es zu der Hansi-Welt (z. B.) hinuntergeht, die Flughöhe, wenn es wieder zur Sprache der Blumenberg/Löwe-Welt hinaufgeht, sind zu groß. Was dabei zusammenbricht: mein Lese-Interesse an den Hansi-, Gerhard-, Isa-, Richard-Welten. Die Schwierigkeit, Trivialität absichtsvoll zu inszenieren, deutet sich an. Die sprachliche Leidenschaftlichkeit der Sybille Lewitscharoff, so scheint es, ist auf das Pathetisch-Machtvolle als Motiv angewiesen, um sicher voranschreiten zu können.

Zwei Textpassagen sollen das Gemeinte konkretisieren:

(a) Die Blumenberg/Löwe-Welt (kurz nach der Erscheinung des Löwen vor Blumenberg):

Kurios war nur, dass von dem Löwen gar nichts Undeutliches, Verschwebtes, Löwen- und Luftatomvermischtes ausging; seine Umrisse zitterten nicht im Hin und Her der wellendurchlaufenen Gedanken Blumenbergs; es blitzten keine löwenköpfigen Spiegelneuronen und bewimmelten das kristalline Geflirr einer Halluzination. Der Löwe war da. Habhaft, fellhaft, gelb. (S. 10)

(b) Die Gerhard/Isa-Welt (nach Isas Tod; Gerhard, der Isas leiblicher Geliebter gewesen ist, macht den Eltern einen Kondolenzbesuch):

Nein, der Professor hatte sie gewiß nie berührt, nie und nimmer, hunderprozentig nicht; nicht einmal gesprochen hatte Isa je mit ihm. An eine echte Affäre glaubte kein Mensch. Wahrscheinlich wusste Blumenberg nicht einmal, dass sie bei ihm studierte. Sie war ja nie in seiner Sprechstunde gewesen.

Und es gibt nichts, das Sie uns verschweigen? fragte der Vater unerwartet streng. Sie wollen den Professor doch nicht etwa schützen? Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass seine Elisabeth in einen Mann verliebt gewesen sein sollte, der sie nicht einmal bemerkt hatte. Ausgeschlossen. Sein Spatzl verdrehte aller Welt den Kopf, aber doch nicht umgekehrt (S. 117).

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In zwei sehr kurzen Kapiteln meldet sich „der Erzähler“ selbst zu Wort und äußert sich explizit zu der Interferenz von Erzähler- und Figurenbewusstsein – sicher die heikelsten Passagen im Roman. Sie hatten, immerhin, zur Folge, dass sich auch mir als Leser eine Theorie-Frage aufdrängte: ob nicht vielleicht eine andere Verteilung der Bewusstseinszentren, eine andere Konstruktion der „Perspektivik“ mein Leseproblem gelindert hätte?

Aber Erwägungen wie diese laufen, wenn man sie sich als Leser stellt, rasch ins Leere. Für den Autor ist jede noch so kleine Schreibentscheidung eine Entscheidung über alles oder nichts. Wenn der point of no return überschritten, das Werk in die Publikation entlassen ist, ist es „fertig“, unwiderruflich, unverbesserbar.

Derlei Totalentscheidungen drängen sich dem Leser nicht auf. Auch wenn er mit einigem in einem Roman seine Schwierigkeiten hat, kann ihn das Ganze so beschäftigen, dass er – in diesem Fall: viel – Vergnügen und Anregung davon hat.

D. K.