Nach der Wahl vom 17. Juni 2012
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Im Blick auf Griechenlands Krise hat sich die Fragestellung verändert. Hieß die entscheidende Frage noch vor einigen Monaten: Wie viel Geld brauchen die Griechen von Europa, um ihre Finanzprobleme in den Griff zu bekommen?, heißt sie jetzt: Wie viel Zeit braucht Griechenland, um sich auf die Erfordernisse des Euroraums einzustellen? Die Veränderung der Fragestellung ergibt sich aus einer verbreiterten Einsicht in die Problematik: Offenbar geht es nicht allein, vielleicht gar nicht in erster Linie, um Geld, sondern um das Verständnis Griechenlands von sich selbst – gegenüber Europa.
Die griechische Öffentlichkeit, aber auch Funktionsträger wie der griechische Staatspräsident haben mit zunehmender Empfindlichkeit auf „Einmischungen“ und „Bevormundungen“ von außen reagiert. Unausgesprochen steht hinter diesen Protesten die Forderung, die Griechen ihre Probleme selbst lösen zu lassen, und das Eingeständnis, dass die Probleme derart fundamentaler Natur sind, dass sie nur von ihnen selbst zu bearbeiten sind.
In der Tat, es ist viel, was für die Griechen an ihrem Staatswesen fraglich geworden ist: das Agieren der etablierten politischen Parteien, das System der staatlichen Haushaltsführung, das System der Besteuerung und der Steuereintreibung, das Katasterwesen usf. Man kann sagen, dass für die Griechen heute nicht mehr und nicht weniger als ihre nationalstaatliche Eigenart in Frage steht. „Wer sind wir eigentlich?!“, und es liegt auf der Hand, dass wir anderen Europäer an möglichen Antworten interessiert sein müssen – sind wir doch Mitspieler in einem Spiel, bei dem es auch für uns um einen hohen Einsatz geht.
Der griechische Autor Nicos Dimou, der schon vor einigen Jahrzehnten ein Buch mit dem Titel „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ (1975) geschrieben hat, formuliert in einem SPIEGEL-Gespräch (DER SPIEGEL, 23, 2012, S. 98-99) ein aktuelles Selbstbild seiner Landsleute, das mit Begriffen operiert, die zwischen Individualpsychologie und Sozialpsychologie changieren: Emotionalität (was Mangel an Besonnenheit und Kritikfähigkeit einschließt), Stolz, Freiheitswille (wozu Eigensinn und Empfindlichkeit gegen jede Art von Fremdbestimmung gehören), Neigung zum Phantastischen (man denke an den Alexis Sorbas von Nikos Katzanzakis), Melancholie, Minderwertigkeitsgefühle angesichts der eigenen „klassischen“ Vergangenheit.
Das Operieren mit solch plakativen Begriffen mag problematisch sein und wenig prognostische Kraft entwickeln, aber es hat einen Vorteil: Es wirkt übersichtlich und, wenn auch nicht „komplett“, so doch tendenziell komplettierbar. Andererseits: Wollte man sich auf die Mikroebene der Alltagspraxis begeben, all die eingespielten Interaktionsmuster zu beschreiben versuchen, die das Zusammenleben von Menschen bestimmen, die sich für eine „Nation“ halten, die Gewohnheiten und Rollenmuster, wie man sie in der Familie, im religiösen Leben, im Handeln zwischen Geschäftspartnern, in dem Verhältnis der Gläubiger und Schuldner, zwischen Wählern und Parteien, zwischen dem Staat und dem Steuerzahler, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Arzt und Patient, Wirt und Gast usf. auslebt, würde man sich im Infinitesimal der Details verlieren.
Eine Möglichkeit, der Unüberschaubarkeit einerseits, der begrifflichen Ausdünnung andererseits zu entgehen, besteht darin, sich die Geschichte der betreffenden Gesellschaft – und sei es skizzenhaft – vor Augen zu stellen.
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Griechenland stand vom 14. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Osmanen. Die „morgenländische“ Herrschaft ragte damals weit nach Europa hinein: über Griechenland (einschließlich Kreta) hinaus bis in den mittleren Balkan. Fremdherrschaft par excellence. Von den betroffenen Nationalitäten haben die Griechen, neben den Serben, diese Herrschaft am entschiedensten abgelehnt. Sie haben den christlich-orthodoxen Glauben als einen inneren Schutzschild vor sich gehalten, um die Kontinuität ihrer eigenen Tradition zu wahren. Der andere Hort der Abschottung gegenüber der Obrigkeit war die Familie. Geltung der Familienrollen, Pflege der überkommenen Familienrituale waren überlebensnotwendig. Die Bindungskraft der griechischen Familie ist noch heute sprichwörtlich und lässt sich filmisch besonders gut darstellen („Meine dicke fette griechische Hochzeit“). Immerhin, die Herrschaft der Osmanen, auch wenn sie in Istanbul saßen, war „Regierung“ – aber da sie Fremdregierung und Zwingherrschaft war, wurde die Illoyalität ihr gegenüber wachgehalten, die Subversivität ihr gegenüber automatisiert. Die Erfindung von Techniken, wie man sich der Macht der Obrigkeit entzieht, wie man der Eintreibung von Steuern entkommt, gehörten schon während dieser fünf Jahrhunderte zur Routine des Alltags.
Aber auch dann, als – in einem blutigen, überaus verbissen geführten Befreiungskrieg, an dem Freiwillige aus verschiedenen Ländern Europas sich beteiligten – in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fremdherrschaft endlich abgeschüttelt war, fanden die Griechen nicht zu einem eigenen Gesellschaftsmodell. Wie hätten sie es auch erfinden sollen? Ein „nordeuropäischer“ Monarch wurde für sie gesucht und gefunden: Ein Mitglied des bayerischen Königshauses, Otto von Wittelsbach, bestieg in Athen den Thron – pikanterweise ergab sich diese Wahl auch deshalb, weil der junge griechische Staat überschuldet war und die Gläubigerstaaten eine „Kontrolle von außen“ installieren wollten. (Dazu Rainer Stephan in der SZ vom 11. Juni 2012, S. 16) Der Sturz Ottos I. brachte mehr innenpolitische Selbstständigkeit – und trug zugleich zur Entstehung eines expansiven Nationalismus bei. Von da an spielte der Anspruch auf Makedonien eine zentrale Rolle im griechischen nationalen Selbstverständnis, ein Anspruch, der noch in der Gegenwart die griechische Außenpolitik bestimmt – und lähmt.
Folgt man der gesellschaftspolitischen Entwicklung Griechenlands durch das 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart, wird sichtbar, dass die Möglichkeiten, Erfahrungen mit einem demokratischen Staatswesen in eigener Regie zu machen, minimal blieben. Die konstitutive Monarchie überdauerte zwar die Jahre des Nazi-Terrors während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, überdauerte formal auch den Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Traditionalisten nach 1945, aus dem das Trauma erwuchs, in sich nicht einig zu sein. Der Obristenputsch von 1967 setzte dann nur in brutaler Offenheit die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft, mit der es auch in der „königlichen parlamentarischen Monarchie“ nicht sehr weit her gewesen war.
Dann passierte etwas, das in der Gegenwart, in der aktuellen Krise, wegweisend sein könnte: Griechenland fand sich in der Auflehnung gegen das Obristenregime in einem unblutigen „Freiheitskampf“ zusammen, der erfolgreich endete und eine „ganz neue“ Zukunft zu versprechen schien. Die Monarchie wurde per Volksentscheid abgeschafft, eine nun wirklich „eigene Demokratie aus der Taufe gehoben! Aber diese Chance, sich einen konsensgetragenen Staat zu bauen, wurde vertan. Familienklans wurden zu Kristallisationskernen der beiden großen Parteien – und mit der wechselnden Dominanz der Familien Karamanlis und Papandreou vermischten sich die Domänen von Familie und Partei. Seitdem haben Sozialdemokraten und Konservative, Pasok und Nea Dimokratia durch Klientelwirtschaft und eine Aufblähung des Staatsapparats die Gesellschaft korrumpiert und durch ihr Beispiel die Reichen ermuntert, sich immer noch weiter zu bereichern. Seit es zur Gründung des Euroraums kam, betrogen die jeweiligen Regierungen, ob die von der Pasok oder der Nea Dimokratia gestellt wurden, durch Bilanzfälschungen ihr eigenes Volk und ihre Partner in der europäischen Währungsgemeinschaft. Als es in ganz Europa zur Schuldenkrise und damit zum Schwur kam, endete auch der letzte Aufschub.
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Die gegenwärtige Staatskrise hat in ihrer komplexen Dynamik etwas Paradoxes. Diejenigen, die zur Sparsamkeit aufgefordert und zum Verzichten bis hin zum Versinken in Armut gezwungen werden, haben die Krise nicht verursacht. Wer kein Geld hatte, konnte an der allgemeinen Korruption nicht verdienen, konnte keine Bestechungsgelder erheben, sondern musste sie bezahlen. Was er tun konnte, war allenfalls, auch die wenigen Steuern noch, die bei ihm fällig wurden, zu hinterziehen. Diejenigen, die von der Plünderung des Gemeinwesens profitierten, haben ihre Gewinne längst außer Landes gebracht. Regierung und Parlament haben Europa um Hilfe gebeten – und wieder sind es Ausländer, die den Griechen Vorgaben machen, und wieder ist der griechische Nationalstolz gekränkt.
In der Mai-Wahl 2012 haben die Griechen das einzig Naheliegende getan. Sie haben die Parteien, die für ihr heutiges Unglück verantwortlich sind, abgewählt. Das sah nach Neuanfang aus. Aber der Neuanfang wäre wohl nur aus einer katastrophalen Chaos-Phase geboren worden. Nun, nach der Wahl vom 17. Juni 2012, sind die alten Parteien doch wieder am Ruder. Nur sie meinen/scheinen versprechen zu können, dass es mit dem Euro weitergeht.
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Wie lange wird es dauern, bis Griechenland sich nach Europa einbringen kann?