Vom Haiku zum szenischen Gedicht

Als ich die ersten Übersetzungen von japanischen Haiku las, war ich fasziniert. Das, was mir an der europäischen/deutschen Lyrik Probleme machte, fehlte darin: die Gedanken über Gott und die Welt und die Herrschaft der „übertragenen Rede“, Symbole, Metaphern, Vergleiche usf. Die Anschaulichkeit, die ich darin vorfand, war sekundär – die Anschaulichkeit der blumigen Sprache. Während meiner dreijährigen Tätigkeit an einer japanischen Universität hatte ich dann Gelegenheit, mich in die Haiku-Welt zu vertiefen. Das Ergebnis waren Übersetzungen von 150 dieser Kurzgedichte samit einem Essay zur Haiku-Geschichte und Haiku-Gattung (Dietrich Krusche: Haiku. Japanische Gedichte, dtv 1994ff ).
Das japanische Haiku lebt von der Kürze, 17 Silben, verteilt auf drei Zeilen, die drei Schüben der Assoziation entsprechen. Was sein Sprechen aber vor allem bestimmt, sind andere Charakteristika. Drei Haiku-Regeln lassen sich formulieren: (1) Haiku soll, und sei es nur in einer Andeutung, einen Naturgegenstand (ein reales Objekt) erwähnen, jedenfalls etwas, das „ausserhalb“ des Menschen ist. (2) Es soll sich auf ein einmaliges Ereignis (eine einmalige Situation) beziehen. (3) Das Ereignis (die Situation) soll als gegenwärtig dargestellt und nicht als vergangen berichtet sein – wobei eingeräumt ist, dass auch eine Erinnerung als gegenwärtig dargestellt werden kann. Die Regel (1) erfährt eine Spezifizierung durch die Auflage, dass mit dem (Natur-)Gegenstand  zugleich eine bestimmte Jahreszeit gegeben oder wenigstens angedeutet sein soll. Alle diese Regeln zielen auf das Gleiche: Das Haiku soll konkret sein. Der Abstand dessen, der das Haiku spricht, zu dem Ereignis (der Situation), die er aussagt, wird gering gehalten, der Spielraum für Selbstreflexion bleibt klein – der Hörer/Leser bekommt die Dinge, von denen das Haiku spricht, dicht vor sich hingestellt. Alles weitere, Einordnung in größere Zusammenhänge, Erstellung eines „tieferen Verständnisses“ liegt bei ihm.
Wie konkret das Haiku ist, ergibt sich zum Beispiel daraus, dass die Person, die es erlebt und spricht, oft gar nicht erwähnt wird, aber trotzdem als anwesend mitgesehen werden muß, wenn das Haiku verständlich sein soll.
Ein Haiku des bedeutendsten japanischen Dichters, Basho, lautet:

Diesen Weg
geht niemand
an diesem Herbstabend.

Kono michi ya
yuku hito nashi ni
aki no kure.
(Basho, 1630-1690)

 

Liest man das mit der kulturspezifischen Einstellung eines europäischen Lesers, die zuallererst auf den ‚Inhalt‘ des Mitgeteilten (den ‚informativen Gehalt‘) ausgerichtet ist, kann man den Eindruck haben, dass hier etwas Triviales geäußert wird: Dass da ein Weg ist, den niemand geht, und dass es Herbst ist – na und?! Liest man so, wie es einem japanischen Leser nahe liegt, nämlich in einer stärker imaginativen Einstellung, dann sieht man jemanden, nämlich den, der dieses Gedicht spricht, und mit ihm zugleich einen Weg, der nicht irgendeiner ist, sondern der, den eben dieses Ich zu gehen sich anschickt. Das Wort, das die Perspektivierung leistet, kono (= dieser), bedeutet so viel wie „dieser mein“ Weg. Der Weg, von dem hier gesprochen wird, ist der, den niemand anderes geht als der Sehende/Sprechende, es ist sein Weg, und er führt in diesen Herbstabend hinein, der den Wandernden schicksalhaft erwartet – mit seinen Gefährdungen durch die „herbstlichen“ Gefahren, Krankheit, Tod … Eigentlich ist der kulturelle Unterschied, der hier zutage tritt, noch krasser. Im japanischen Text geschieht die Versprachlichung der Nähe-Relation nur einmal. Die dritte Zeile des  Originals heißt nicht: „an diesem Herbstabend“, sondern nur: „Herbstabend“.  Hätte ich so übersetzt, wäre die Bezogenheit des „Weges“ auf das Subjekt der Wahrnehmung noch schwächer markiert, die Missverständlichkeit des Basho-Textes für einen deutschen Leser noch größer gewesen.
Andere Übersetzungsprobleme: Die Silbenzählung spielt im Japanischen eine andere Rolle als im Deutschen. Da wir einen ausgeprägteren (dynamischen, exoiratorischen) Wortakzent haben als das Japanische, eignet sich im Deutschen die bloße Silbenzahl nicht als Strukturprinzip. Ich musste daher, wenn ich nach der angemessensten, entspanntesten Wortwahl für die Übersetzung suchte, immer wieder von den Silbenzahlen 5/7/5 abweichen. Viele japanische Haiku kamen für eine Übersetzung deswegen nicht in Frage, da das Dingwort, das im Japanischen den Hinweis auf die Jahreszeit gibt, im kulturellen Kontext Deutschlands/Europas diese Hinweiskraft nicht besitzt. Schließlich bezieht sich das Haiku oft auf spezielle gesellschaftlich Details, die zu der Sozialepoche gehören, zu der es seine Blütezeit hatte, im Wesentlichen der Tokugawa-Zeit (1603-1868). Diese hätten aber, um in Europa verstanden zu werden, ausführlicherer Erläuterungen bedurft. Hier nun 15 der 150 von mir übersetzten klassischen japanische Haiku, angeordnet nach den fünf Jahreszeiten – wobei der Jahreswechsel („Neujahr“) die erste ist.

 

Neujahr. Glückwunschzeit.
Das Übliche für mich – das
ist mein Fest.
Issa

 

Ja, ja, schrie ich.
Doch das Klopfen hörte nicht auf
am verschneiten Tor.
Kyorai

 

Eine Frau, ein Mönch –
Die Fähre glitt davon
im Schneegestöber.
Maisetsu

 

Der Schnee ist geschmolzen:
Das Dorf läuft über
Von Kindern.
Issa

 

Sogar mein Schatten
Ist durch und durch gesund
An diesem Frühlingstag.
Issa

 

Die Katze hat geschlafen:
Sie streckt sich, gähnt und geht
auf Liebe aus.
Issa

 

Der Frühling geht –
Die Vögel schrein ihm nach,
in den Augen der Fische sind Tränen.
Basho

 

In Kyoto bin ich,
doch beim Schrei des Kuckucks
sehn ich mich nach Kyoto.
Basho

 

Nichts
In der Stimme der Zikade sagt,
wie bald sie sterben wird.
Basho

 

Man gratuliere mir!
Auch dieses Jahr noch haben
die Mücken mich gebissen.
Issa

 

Herbstanfang –
was sieht der Wahrsager
erschrocknen Blicks?
Buson

 

Ich gehe,  und
du bleibst –
zwiefacher Herbst.
Shiki

 

Das Jahr geht hin. Wie lange noch
kann ich meim graues Haar verbergen
vor meinem Vater?
Ensujin

 

Bell, sag ich, bell!
Der Hund hilft mit
Das Jahr zu Ende bringen.
Issa

 

Komm, laß uns schlafen gehen!
Das neue Jahr ist eine
Sache von morgen.
Buson

 

Schon während der Übersetzungsarbeit wurde mir klar, dass ich den formalen Umriß des Haiku nicht einfach ins Deutsche tranferieren konnte, um ihn dann mit deutschen „Inhalten“ zu füllen. Außerdem hätte ein Festhalten am Jahreszeitenbezug eine Einengung bedeutet, deren Berechtigung im europäischen Kontext nicht evident genug wäre.
Was ich aber festhalten wollte, war die Sprechweise des Haiku: direkt, knapp (nicht unbedingt „kurz“ in einem quantitativen Sinn), konkret, d. h. mit einem Übergewicht des sinnlich Nachvollziehbaren über die  (Selbst-)Reflexion des Sprechenden (des sogenannten „lyrischen Ichs“).
Deutsche Autoren, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vom Haiku haben anregen lassen, sind u. a.: Holz, Däubler, Rilke, Klabund, Brecht. (Siehe dazu D. K.: „Das japanische Haiku in Deutschland“, in: ders.: Literatur und Fremde, 1985.)
Was sich bei meiner Arbeit ergab, waren Gedichte mit einer ausgeprägten Anschaulichkeit der Szene. Diese Szenen wollten aber, je länger, desto weniger, statisch bleiben. Was sich herausbildete, waren Ereignisse oder Ereignisketten, die sehr oft, wenn nicht meistens, eine Veränderung bedeuteten. Wer oder was  veränderte sich? Darauf ergaben sich für mich zwei Antworten: Die Sicht des Sprechers („ich“) auf die Szenerie, was dann als Veränderung der Szenerie erschien, oder die erlebende und sprechende Instanz selbst („das Ich“) – ein Unterschied, der sich leicht verwischen kann. Den Begriff der Veränderungen habe ich festgehalten. Ich könnte auch – mit Ovid – von „Metamorphosen“ sprechen, die, wenn sie länger werden, etwas von Erzählungen bekommen.

 

  • 47 Veränderungen

Widerstand

Ich gehe übers Wehr.
Auf dem eisernen Geländer aufgereiht
sitzen Möven. Mein Vorübergehn
streift sie ab:
unschlüssiges Kopfrucken, probierendes Flügelschlagen,
Sichfallenlassen, Davonziehn – eine gibts
an die andere weiter, eine flaumige Kette,
die sich von einem Ende her auflöst.

Nur eine Möve bleibt sitzen.
Wir tauschen in gegengleichem Kopfdrehn
einen langen Blick.

Was hält sie?
Was hat sie gehärtet
zum Kampf Aug gegen Aug?

 

Dienstreise

Zwei Nonnen im Mercedes
mit Chauffeur

mit schmalen Lippen, Blick nach vorn
auf Dienstreise
im fließenden Verkehr.

 

Ebenerdig

Ich wohne auf der Erde,
wenn ich mich besuche, verlasse,
ich bleibe gleich auf gleich mit ihr.

Im Sommer steht bei offner Tür
der Baum auf gleichem Grund
mit meinem Fuß, im Winter steigt
der Schnee die Tür hinauf, ich nehme Maß
mit Wade, Knie und Schenkel
durch das Glas.

Von Sommer, Winter unbeirrt
geht abends, unterwegs zum Nachttier,
die Katze zwischen Baum und Tür vorbei.
Sie dreht den Kopf und bleibt,
eine der Vorderpfoten angehoben,
stehen, saugt mich durch zwei Schlitze,
geht weiter und streut mich
achtlos zwischen zwischen den Büschen aus.

Totensonntag. Über
den Friedhöfen fliegen die Flugzeuge
langsamer.

 

Beifall

Als habe er zwischen dem letzten Bogenstrich
und jetzt vergessen, daß er gespielt hat.
Was ist? Ach ja -. Da hat er schon
das Cello an sich gezogen, steht,
halb abgewandt und nur
das Instrument beachtend auf,

trägt es dorthin,
wo das Gedränge am größten, die Tür umlagert ist,
drückt sich hinaus, kommt wieder, hat das Instrument
noch fester jetzt an sich gedrückt,
und als er wiederkommt,
hat er ein Schaf, ein braunes Schaf
im Arm, das deckt er vor den Bravorufen,
den stürmischen Bewegungen der Hände,
die Wärme, die Ruhe des Tieres sparend,
darauf angewiesen, wenn er gleich
entronnen sein wird.

 

Geheimnis

Als Jonas starb, nahm er
sein Geheimnis mit ins trockne Grab,
den Unterwasserpfiff,
der den Walfisch
herbeiruft.

 

Beim Wirt zu Gast

Wir aßen sein Brot,
wir aßen sein Fleisch,
wir bewohnten sein Haus,
wir schliefen mit seiner Frau –
seine Kinder lehrten wir
das Sprechen, das Zweifeln
und das Sichauflehnen
gegen den Vater.

 

Zirkusnummer

Den Tiger streicheln
lang den Rücken hinab
Funken ziehend, sprühend gelb
und an den Haarspitzen knisternd
– wenn die Kette ihn hält

streicheln über den gekrümmten Rücken
in den Schwanz hinab, über die gespannte
wellenüberlaufene Haut,
das darunter steigende, grollende Zittern
– wenn keine Kette ihn hält.

 

Beerenfang

Neulich sah ich im Wald einen Mann,
der hatte eine Pfeife am Mund,
und wenn er pfiff, liefen ihm
alle Pilze in Hörweite zu.

Er konnte den Ton auch wechseln,
dann waren es Blaubeeren, Preißelbeeren,
die rollten, oder Himbeeren, Brombeeren,
die abflogen von ihren Zapfen, ihm nach.

Der Mann hatte Mühe, die Pilze und Beeren
hinter sich zu lassen, Raum zu finden,
für den nächsten Schritt. Als er den Wald verließ,
kopfschüttelnd, vor sich hin lachend,

ging er mit leeeren Händen. Ich steckte
mit meinen Körben tief im Unterholz,
ankämpfend, keuchend und schwitzend,
gegen den Überfluß der Beeren und Pilze.

 

Bauch in Bauch

Komm her, Fisch! Halt still, Fisch!
Richte dich ein, gefälligst,
in der Pfanne!

Mein Bratfett verschwendet an dich,
dein Fleisch an mich,
ist das kein deal?

Du willst nicht? Schuppe gegen Messer?
Was sperrst du das Maul auf? Wer
ist hier der Esser?!

Fisch, Fisch, was verschluckst du?
Kein Walfischbauch
macht mich zum Propheten!

Da fang ich lieber noch einmal mit dir an:
Zunge im Fischmaul,
Menschenhand in der Flosse.

Bauch in Bauch grasen wir die Ozeane ab,
zeugend, säugend, blasend
aus dem gleichen Mundloch.

Bis zuletzt, bis einer den andern entläßt
zum letzten Fanggefecht und ich
dich harpuniere mit Dynamit.

 

Die Ausfahrt der Pflüge

In der Nacht, als der Schnee fiel,
fuhren die Pflüge los.
Sie räumten den Schnee von den Straßen
und warfen ihn an den Rändern zu Wällen auf.

Sie überhäuften die Begrenzungspfähle,
ließen die Leitplanken verschwinden
und schließlich auch die Wegweiser
in eine schneepfluglose Vergangenheit.

Als die Schneefälle aufhörten,
die Straßen schneefrei waren,
schoben die Pflüge die Fußgänger
und Radfahrer beiseite, dann warfen sie

die Autos über die Schneewälle,
Lastzüge und Sattelschlepper kollerten
über die Abhänge an den Autobahnen
ihre Ladung (Äpfel, Tonkrüge)

rollte bis in die Wälder – während die Pflüge
argwöhnisch über die Straßen dröhnten
aus abgeblendeten Lichtern
sich gegenseitig beäugend.

 

Die Begrünung der Eltern

Anfangs waren es Blumen,
je nach Jahreszeit, Tulpen Gladiolen, Astern,
die von Bord und Fensterbrett aus das Zimmer besetzten.
Aber immer wieder einmal hinterließen damals noch verweklte,
weggeworfene Sträuße leere Vasen, um die herum das Zimmer
für Tage oder wenigstens Stunden frei war. Damals
saß ich gelegentlich noch mit am Tisch. Dann

breiteten Topfpflanzen sich aus,
Stauden, kleinere Büsche, wobei immergrüne Gewächse
den Vorzug bekamen. Vereinzelt drangen
mit Aralie, Gummibaum, Philodendron mir unbekannte
befremdlich wuchernde Arten ein, unauffällig eher,
ich war nicht besorgt, obgleich es schwerer wurde,
die Eltern zu erreichen: Tisch, Stühle, Bett
waren umzingelt, das Fenster übergrünt. Inzwischen

haben tropische Gewächse
gänzlich die Oberhand gewonnen. Schlingpflanzen,
Lianen, riesige Kriecher, breitfächrige Palmen, Bambus,
betäubende Blüten an glänzenden, klebrig feuchten Schäften,
Kaskaden von Luftwurzeln. Dahinter sind Fenster und Wand
verschwunden. Knollige Luftwurzeln sprengen die Töpfe,
zwängen sich in den Boden. Jede Vorkehrung
käme jetzt zu spät. Schwer atmend
stehe ich abgedrängt am Rand:

Zwischen den karmesinroten, den schwefelgelben Blüten,
den tellergroßen, tropfenbesetzten Blättern stehen,
nur am Funkeln der Brillengläser ausmachbar,
die trockenen, bräunlich-gerunzelten Gesichter. Nur am Schwingen
der Luftwurzeln, am Zittern der Blüten ist zu sehen,
wenn zwischen Blatt, Ranke, Stamm die Hände, Füße
sich bewegen. Die Schwüle kräuselt sich,
wenn die Augen mir zublinzeln. Schwach
mit den Fingern winkend
weiche ich rückwärts aus der Tür.

 

Schwarzer Tanker

Der wachabende Offizier,
den Ellbogen auf die Leiste
des Brückenfensters gestützt,
balanciert auf den Fingerspitzen
die Schönheit der Navigation:

die kristallische Klarheit
der Kurskalkulation, die kosmisch verbürgte
Genauigkeit des Schiffsorts,
das reine Hier und Jetzt,
wo die Peilungen sich schneiden.

Der Kapitän schläft, sagt er,
und wirft einen Blick auf den Rudergast,
auch er könnte nichts anderes tun –
Da, sehen Sie den Tanker
steuerbord voraus?

Seit er aufgetaucht ist an der Kimm,
sagt er, probiere ich alle denkbaren
Ausweichmanöber, unfehlbar
findet der andere drüben
den Gegenkurs!

Lächelnd, während der Rudergast
entsetzt die Radspeichen wirbelt:
Wie zwei Sterne, sagt er,
für einander bestimmt im All –
da sehen Sie selbst!

Im makellosen Weiß
des Ärmeldreiecks
taucht scheußlich plump der Bug
des schwarzen Tankers auf.

 

Wachablösung

Die Ratte betritt
das sinkende Schiff.

Achtlos durchläuft sie
die ihr zugedachten Reviere,
den Proviantraum, die Kombüse mit den Abfallkästen,
schleift den Schwanz über Speck, trägt die Nase
am Käse vorbei, kein Schnuppern verschwendet.

Durch die offenen Schotten in den halb gefluteten
Kesselraum, zu dem geborstenen Brenner,
durch den zischenden Dampf, in den sie den Kopf hebt, der sie durchrieselt, der den Schwanz ausschlagen, Meßinstrument,
das die tödliche Strahlung anzeigt.

Nach oben zurück, über die Stahltreppen, das Scheppern
läuft ihr voraus, vorbei am Laderaum, dem Mannschaftsquartier
auf die Brücke: die Kralle
reißt ein Loch in die Seekarte, die letzte Position,
der Bauch deckt das Kompaßglas,
die Kapitänsmütze fällt ihr zu –

Der Rattenkopf, riesengroß,
aus dem Tür der Kommandobrücke gereckt,
während die Besatzung, in den Booten rasend,
noch meint, entkommen zu können.

 

Märchensommer

Noch einmal das Meer,
Bilderbuchstrand,
breit auf die Plakatwand
der Erinnerung geklebt, Reklame
für vergangene Zeiten.

Keine bleivergifteten Fische,
keine ölerstickten Vögel,
keine teerigen Steine,
von denen man den Fuß abreißen muß,
das Kainszeichen an der Sohle.

Keine Rauchschwaden über den Dünen,
keine Staubschichten zwischen Sonne und Haut,
normale Trockenheit, natürliche Gewitter,
Sommerwetter wie vor Jahrmillionen.

Die Kinder
werden davon erzählen:
Es war einmal…

 

Trendwende

Der große Dampfer –
eben noch kleiner Kahn!
Wir lachten und sagten:
Der sinkt, wie er fährt,
morsche Planken, Algenbehänge,
geborstene Ruder –
und stiegen nicht ein.

Aber jetzt –
auf der Mole sitzend,
die Hände in die Ritzen
zwischen die Steine geklemmt,
sehen wir ihm nach, wie er,
qualmwolkig,
mit großer Bugwelle voraus,
abzieht mit den Freunden.

 

Vermeidung der Vogelperspektive

Der Bauer, beim Rübenausziehn
zeigt den Weg
mit einer Rübe.
Sieh nah hin,                                                                          Issa

tu dem einzelnen Barthaar Genüge,
daß es Nachlässigkeit nicht krumm nimmt
und wieder einwächst!

Hüte dich vor der Überschau ins Weite und Breite,
dem Blick auf das Ganze und dich mittendrin:
auf das Feld mit den Vogelscheuchen,
die kreuz und quer laufenden Furchen,
die versandeten Weg, die verschilften Teiche,
und dich mittendrin, staksend, fuchtelnd
und der Welt Signale gebend
mit einer Rübe –

Duck dich!
Werde zum Frosch!
Spring in den Spiegel!

 

Sicherheit beim Fliegen

Seit der Freund
in einen Flugabsturz kam
und einfach weg ist
(Linienmaschine, das Wetter gut,
ein Start aufs offne Meer hinaus, die Luftgesellschaft
weltweit bekannt für Sicherheit),

betrete ich Flugzeuge
erwartungsvoll:

Ich versenke mich in das Lächeln
der Stewardess, die in der Tür steht, selber lächelnd
blicke ich zustimmend vom Kabinenende her
auf die schon angeschnallt sitzende Kohorte:
So kommt man unter sichrer Führung
über jedes Wasser! Besonders die Gefährten
gleich rechts und links im Sitz
betrachte ich mit Sympathie
und versuche beiläufig.
ihnen unter die Zunge zu blicken.

Auf das Geräusch der Triebwerke
achte ich nicht. Die Ungeduld
beim Anrollen bleibt weg. Der Gedanke
an die Länge der Startbahn
hat die Qualität des Gedankens
an das Taschentuch in der Tasche.

Erwartung braucht ihre Zeit,
auch wenn der point of no return
schon überrollt ist.

 

Minotauros

Die Spitzen der Hörner
sind auf dich gerichtet,
wie du dich auch drehst,
sie zielen auf deinen Bauch.

Es sei denn, dir gelingt
der große kretische Trick:
du packst die Hörner
und holst dir dort den Schwung,
den du brauchst zum salo mortale

über den Nacken des Stiers hinweg
in das Leben im Rücken des Stiers.

 

Robinson

1

Den Sturm rief ich,
dem Steuermann gab ich
den falschen Kurs,
das Riff setzte ich
dem Schiff bei Nacht
unter den Kiel.

Die Einsamkeit fraß ich.
Den Ziegen lief ich nach.
Eidechsen küßte ich,
und umarmte den Baum.
Das Messer stieß ich
mir in den Schenkel.

Wenn Freitag kommt,
werde ich seiner wachsenden
Anhänglichkeit
zwei Tage lang zusehn.
Am Sonntag werde ich
ihn töten.

2

Daß ich den Sturm rief
und dem Schiff den Felsen
unter den Kiel setzte,
geschah aus Hunger
nach dir.

Die Eidechsen,
das Gewimmel der Termiten,
die Aasgeier und das Trappeln
der Zielen – das alles
kündigt dich an.

Wenn du kommst –
und ich frage nicht,
welchen Tag mein Kalenderbrett zeigt –
ist die letzte
Kerbe geritzt.

Dem Meer entronnen,
das die anderen verschlungen hat,
sonnengewalkt
sehen wir
uns wieder.

 

Ameisenlöwe

Narciso Yepes in concert

Tief unten
der kleine Mann,
kahlköpfig, grau in Weiß-Schwarz,
er spielt das Lied vom Tod.

Kaum freier Raum.
Die Zuhörer sitzen
die Wände hinauf.

Langsame, die Akkorde einzeln
entlassende Melodie,
die letzten Töne mit dem kleinen Finger
in die leeren Saiten gezupft –

Abschüssiger Grund.
Das Rieseln
der Sandkörner.

 

Krebs

Den Rückwärtsgang,
der, einmal eingerastet,
alle anderen Gänge blockiert hat,
doch noch gelöst –

den Krebs vom Herzen
noch einmal abgewehrt.

 

Myrdun

Die Fähre
fuhr ein in die Bucht im Nieselregen,
am Leuchtturm vorbei
in das Hafenbecken, die letzte
Verengung darin, zwischen die Scheuerleisten,
gepolstert mit Gummireifen, Juteballen
und Algengrün –

fuhr ein und weiter,
Sand, Steine, Fels,
ein Knirschen, aber nicht mehr,
bergwärts, die Bugwelle:
Geröllkaskaden, nur wenig Ackerkrume obenauf,
in das dahinter liegende Hochtal,
dessen sanften Windungen folgend,
bis an den Fuß einer Talsperre,
die Betonmauer, das war zuviel,
der Bug war eingebeult,
neigte sich langsam nach links, man hörte im Inneren
die Autos zusammenrutschen.

Stille – der Kapitän
die Mütze in den Nacken geschoben,
ging prüfend einmal rundum, er konnte
im Kreuzungspunkt aller Blicke
nur die Achseln zucken.

Ein herrliches Hochtal,
schon nahe der Baumgrenze, die typische
Fjell-Landschaft Mittelnorwegens
mit Krüppelbirke, Beerensträuchern,
Sumpfniederungen – Myrdun! Die Passagiere,
die sich zuerst gefaßt hatten, gingen, kamen
mit Büscheln von blühendem Wollgras
zurück an Bord. Die Sonne schien.

 

Heimat, Regen

Durch die Wälder von Masuren
läuft ein Bär, er weiß nicht wie,
und die Kiefern laufen oben,
unten läuft ein Bärenknie.

Sand fällt durch die Ohrenschlitze
und spült weiter ins Gehirn,
und er findet keine Muschel,
ach, er bietet keine Stirn.

Kinder kommen aus den Häusern,
Frauen laufen hinterher,
doch an keinem Zeigefinger
fängt sich ein verlaufner Bär.

Erst seit dieser große Regen
ihm durch Fell und Nieren spült,
ahnt er: hier, ach immer hier schon-!,
seit der Bär den Bären fühlt.

 

Abgeholt

Wenn der Fahrer in der Tür steht,
groß, den Türrahmen füllend,
der Wagen wartet, fragst du:

Wohin? Er zuckt die Achseln.
Du sitzt mit gespreizten Beinen
und siehst zum Fenster hinaus:

Ich fahre nicht! Und du fährst
auf dem Rücksitz, geknebelt, die Augen
verbunden, ohrgestopft,

in den Kurven liegst du, ein Bündel
im Winkel, Fracht nach jenem
geheimen Bestimmungsort.

Wenn der Fahrer in der Tür steht,
groß, den Türrahmen füllend,
der Wagen wartet, sagst du:

Ich komme, stellst das Glas hin,
streichst das Bett mit dem Finger
und schließt hinter dir die Tür.

Du sitzt beim Fahrer, fährst
mit geschlossenen Augen, sagst:
Rechts, links und über den Fluß!

Du hörst das Wasser, spürst
die Kühle und Tiefe des Waldes –
Halt an, denkst du, und er hält.

 

Rückkehr aus dem All

Was für ein Tag!
Ein Sonnenaufgang wie
in Glas geschnitten,
der ganze Weltraumbahnhof
eine himmlische Kulisse.

Eine Stunde, dreizehn Minuten, sieben Sekunden
vor der geplanten Landung
des Raumtransporters schwebten
zwei Riesensäcke, nein Socken,
wie auf einer unsichtbaren Wolke herein –
kein Radarpieps, die Monitore blieben leer,
das bloße Auge nur sah

die beiden Socken, sah noch nicht,
was später die Bergungsmannschaft,
die Spezialisten sehen sollten: die ganze Raumstation,
in ihre Einzelteile zerlegt, nicht eine Schraube,
die fehlte, die wieder flachgeklopften Nieten
der Größe nach geordnet, die Mikrochips
en cloc, die Spanten, die Verplankungen gebündelt,
sogar die Plastiktüren – mittendrin
die Astronauten, sprachlos blinzelnd,
junge Hasen in der Wolle, halb taub,
halb blind, einer zeigte vorwurfsvoll
auf ein gekrümmtes Haar –

wie gesagt, das ganze space-lab
in nur zwei, wenn auch gewaltigen,
rot-blau gestreiften Säcken, nein, Riesensocken
aus dem Raum zurückgereicht.

 

Verabschiedung des Propheten

Der Walfisch ist gekommen,
der Walfisch schwimmt davon.
Der Telegraphenmast,
die Wäscheleine, nichts hat ihn
aufgehalten.

Leb wohl, Jonas, du warst
lange genug mein Gast.
Ich hab dich nie geliebt.
Dein Prahlen ständig,
daß du Prophet bist – fahr hin!

Das blasse Entsetzen
beim Verschlucktwerden
war dir gegönnt, die Wärme jetzt
des Bauches neid ich dir.
So kommt man

auch durch das tiefste Blau
und durch den Herbst – und fährt
und fährt und schläft und hört
im Traume eingefangen
Wasser rauschen…

Doch, wenn der Fisch dich jemals
wieder an Land spuckt, vergrab dich
im Trocknen! Bau ein Haus,
beherberge all jene,
die der Walfisch noch meidet.

 

Wendeltreppe

Ich komme von oben, der Abstieg
von Stockwerk zu Stockwerk
wird immer enger,
die Treppe
wendelt.

Weit unten, ich denke schon, da ist die Tür,
sitzt in der Pförtnerklause einer
und spielt Klavier, ich bleibe stehen,
er sieht mich an, ich komme, weil sein Stuhl
im Weg steht, nicht vorbei, er nickt:
Du willst vorbei, sagt er
und läßt sein Nicken in Kopfschütteln übergehen,
sein Kinn beschreibt eine liegende Acht,
aber auch, wenn ich aufstehe, du kommst
nicht durch da unten, es wird
bloß noch enger, du mußt schon
nach oben zurück –

 

Straßencafe´

Die Kaffeetasse steht
auf einem Tisch aus Rohr
mit einer Platte aus Glas. Die spiegelte,
ein Tropfen klebte
gleich unter dem Tassenrand. Links
das verschnörkelte Portal der Bank – Bremsenquietschen,
ein Wagen hält, zwei Männer springen raus,
Pistolen, Luftgefuchtel, ich ducke mich
bis auf die Kaffeetasse, ein Dritter kommt,
zwei Säcke in den Händen, die trägt er
gelangweilt pfeifend
ins Portal.
Die Sonne scheint.

 

Einstein-Street, Princeton

Das Weltall ausgerechnet haben
und dann in diesen Straßen
verlorengehen!

Das Fragen auf der Wache
–  auch das vergessen! –
nach der Nummer des Telefons.

Die sei, sagen die Tölpel,
geheim – zum Schutz
des großen Mannes.

Ja, aber
ich binss doch selbst!
Da lacht der Riese

von einem Sergant,
eine Lawine aus Husten,
Worten, Lachen:

Schon wieder einer,
der Albert sein will,
Albert, immer wieder Albert!

 

Befehl samt Erläuterung

1

Den ersten, der hereinkommt,
erschießt. Er wird,
wenn ihr ihm dazu Zeit laßt,
überrascht sein,
aber nicht ahnungslos,
und daß er unbewaffnet ist,
sich einfach hinhält, das ist
sein Trick, paßt auf!
Und dann die andern. Sie werden
sowieso versuchen,
sich vor ihn zu werfen. Alle!
Seht nach!

2

Oder erschlagt ihn einfach. Noch besser,
macht eine von den Sachen,
bei denen er sich selbst –
die Fesselung der Füße zum Beispiel,
und wenn er sich bewegt,
die Schlinge am Hals. Noch eins,
gefunden werden
darf er nicht. Niemals.
Wenn er gefunden wird, bleibt alles
bei euch! Nicht eine Handbewegung
von mir oder gar –

3

Ach ja, falls ihrs nicht wißt,
er ist der meistgeliebte Mann hier.
Kann sein, daß auch eure eignen Frauen,
eure Kinder -! Also,
macht ganze Arbeit!

 

Lichtwechsel

Ich habe gelesen,
ich blicke auf.

Das Licht hat gewechselt, ich trage
meinen Stuhl von hier nach dort.

Auch ein paar andere Möbel
stehen am falschen Fleck.

Türen und Fesnter öffneten
sich besser nach einer anderen Seite.

Der Hang, an dem das Haus steht,
könnte stärker geneigt sein.

Dieser Gebirgszug, an dem ich lebe,
ist mir fremd geworden.

Nichts spricht gegen die Ebene. Ich werde
eine andere Sprache lernen.

Mein Name klingt anders darin.
Ich muß mich ändern.

 

Vorteile

Ich lerne die Vorteile
des Stehens in der Luft.

Die Versuchung sich anzulehnen
entfällt, keine Druckstellen

an der Schulter und auf
dem Herzen kein Druck.

Kein Stolpern, Spielbein
und Standbein sind eins.

Kein Verdämmern im Schatten
junger Kirsche oder Birke.

Ich lerne das Pfeifen,
ohne den Mund zu spitzen,

das Klatschen mit einer Hand.

 

Erbteil

Schon seit Jahren
wartet auf mich

ein Morgen Land
in der Unterwelt.

Es heißt, daß dann alles
ganz schnell geht,

aber ich hoffe, daß ich
ein paar Sekunden

Zeit habe, mich umzusehen
und zu sagen: aha,

ehe ich mit verbundenen Augen
zu pflügen beginne.

 

Wiedersehen

Die Freunde haben gesagt:
Komm doch mal wieder!

Sie freuen sich, sitzen im Kreis.
Sag doch was, sagen sie,

werfen und fangen, die Worte
fliegen an mir vorbei.

Sie gießen ein und kippen
die Gläser gegeneinander,

von allen Seiten kommt
das Klingen an mein Ohr.

Er war sehr lange weg,
sagen sie, und nehmen mich,

Schulter an Schultr gedrängt,
mit an den Tisch.

Geruch kommt, Schüsseln klirren.
Wie schön, sagen sie, unter uns.

Ans Tischbein geknotet, während
über mir gegessen wird.

Ich richte mich auf.
Der Tisch kippt.

 

Abschied von Manhattan

Die Brücken drehen sich und steigen,
das schiere Blau ists, was sie
von den Pfeilern hebt.

Die Front der Wolkenkratzer trotzt noch immer
gegen irhendetwas an, der Gegner
blieb einfach weg.

Schwarz, Ocker, Violett, ohnmächtig lassen
die Kolosse sichs gefallen, daß späte Sonne
ihnen die Rippen zählt.

Ausmusterung. Wall-Street ade! Der große Rummel,
Benares am Hudson, siebenmal
zuviel umgesetzt.

Die Möglichkeiten verbraucht, Freiheitsende.
Da drüben Immigration-Island. Hierher lief
einmal die Welt zusammen!

 

Jerusalem

1

Der Soldat
mit dem Gewehr,
dem Munitionsgürtel,
dem Apparat vor der Brust
mit dem Antennenstummel zu Sendung
und Erhalt des Alarms

wird beim Wachwechsel
von seinem Mädchen abgeholt
im dünnen Kleid,
in Sandalen,
mit bloßem Mund,
die Blume hinter dem Ohr.

2

An der Mauer klagen sie,
das Buch in der Hand, klagend
mit dem ganzen Körper,
andere decken sie,
das Gewehr in der Hand, die Klagenden,
mit dem ganzen Körper.

3

Als ich die Stadt
auftauchen sah über den grünen Hügeln,
war sie für einen Augenblick
die Stadt jenseits des Meeres, die ersehnte,
Stadt über der Wüste, in dem Land,
da Milch und Honig fließt,
die erkämpfte, ja,
die heilige
nicht mehr.

 

Haus, unwahrscheinlich blau

Doch
wenn es dir gelingt,
dem Haus oben im Berg
sein Blau zu gestatten,
bist du für heute gerettet,
und vielleicht legt morgen
bei dem Schatten, der fällt,
das Blau ein Wort für dich ein.

 

Rat-Race

Wie sie sich gegenseitig töten.
seehe ich nicht. Wer aber
bringt sie sonst um?

Dies Rasen. Springen,
Durch-die Bäume-Drillen! Laub oder Stamm
gilt gleich. Fellfleckige Geschosse,

den Schwanz auf Jagd gestellt,
über die Stromleitungen, als wollten sie
im Transformator kopulieren, Sprung –

mitten im Blau bleibt ein riß,
triangelförmig, der Fetzen hängt, und weiter
über Kies, Gas, Asphalt – wehe

dem Autoreifen, der ihnen
in die Quere kommt, Knall, Zischen,
der Tanklastzug geht in Flammen auf.

Neulich am Nebentisch: Mann, Frau,
einander gegenüber, selig schwelgend,
Baumratten sprangen zwischen ihnen

von Mund zu Mund, doch plötzlich waren sie
davongeflitzt – die Lippen bebten hilflos,
baten zitternd um Sprung und Biß.

 

Weggewünscht

Er liebt und liebt mich nicht.
Wenn er doch
weg wäre,
abgehoben irgendwohin,
flatternd in Gipfelnähe oder
tief im Wasser
schwebend
mit offnem Mund –

Liebt und liebt mich nicht!
Seine Hand,
als wäre sie
mit Zählen beschäftigt,
Streichelmünze
immer weiter zerkleinert,
augenschlitzwach, Katze,
die auf der Lauer liegt, wartet
auf das Springen der Beute.

 

Vorletzte Maßnahme

Beide haben wir
einen Stein in der Hand.
Beide haben wir
zum Werfen ausgeholt.

Ich kann noch warten:
ich sehe dich gern.

 

Erleuchtung

Die Buddhas stehen in der Lichtung
und halten sich mit flacher Hand
die Welt vom Leibe. Die Affen schaukeln
hinter ihnen in den Zweigen und halten
die Frage offen, ob Sein,
ob Nichtsein.

Die Bäume sind teils abgeschlagen, teils verbrannt,
zwischen den Baumruinen wachsen
die Tempel nach. Noch immer stehen
im makellosen Weiß der Stupas
die blinden Türen offen. Wer hier eintritt,
spürt den eignen Kopf.

Zikadenlärm spannt dichte Schleier auf.
Das Trampeln einer Elefantenherde zieht vorbei.
Ein Reiher kreist. In Schichten lagern sich
Erinnern und Vergessen aufeinander.
Das war ich und das bin ich nicht
und bin das bißchen Ich nur hinter
der vorgehaltnen Hand des Buddha.

 

Der Held setzt sich ab

Agfa-Hochhaus und Mannesmann-Turm schlagen
hinter mir zusammen. Ich entrinne mit hundert
Windstärken über die Autobahn. Nur die Taube,
der die eine Schwanzfeder fehlt, ist vor mir her.

Wer auch immer das Stelldichein mit Medea, den Kampf
um das goldene Vlies für mich verabredet hat,
plant fehl oder muß einen der zahllosen, ewig wartenden
Ersatzhelden suchen gehen. Ich weiß:

Wo immer ich hinkomme, werden die Fremdlinge
am Altar der großen Göttin geschlachtet, aber ich vertraue
auf den Mond, den alten Täuscher, der mich, wo immer
ich hinkomme, eingeboren aussehen läßt.

 

Versuch dabeizusein

Sie stehen in Gruppen, greifen nach
hergehaltenen Gläsern, gehen
von einer Seite des Raums zur anderen
wie ans andere Ende der Welt, gestikulierend,
heftig nickend, nippend am Glas.

Auf dem side-board, im gedämpften Licht
geschichtet, ausgebreitet, getürmt,
das kalte Büffet. Ich stehe nicht weit davon.
Ab und zu geht ein Ellbogen
durch mich hindurch, gleitet ein Hüftrand
durch meine Hüfte, geht ein Blick
mir in die Schläfe und tritt
auf der anderen Seite wieder aus,
dann wieder stößt eine Schulter sich
an meiner Schulter, die ich vorrecke, nicht.

Warten wir noch, sagt die Gastgeberin,
ich bin ganz sicher, daß er noch kommt!
Greifen sie zu, sagt sie, er kommt nicht mehr.

 

Flugspur

Manche sagten Albatros,
andere Kondor, einige sagten Kranich,
Reiher, Pelikan, Riesenmöwe, keiner sagte
Adler, alle sagten langsam, sanft, weich,
und doch – die Unbeirrbarkeit
des Flügelschlags, einer sagte Unerbittlichkeit!

Immer im Flug, die Flügel weit ausgespannt,
und nur für einen kurzen Augenblick zu sehen,
seitlich, ein Auge, aber keiner zweifelte
an seiner Farbe: Bernstein. Nie im Offnen,
immer nur beim Flug durch etwas hindurch, das
nicht Luft war. Durchflogene Dinge, die wiederkehrten:

Fernsehmasten, Kühlhäuser, Konzernzentralen – das mochte
hingehn. Aber daneben, wenn auch seltener, waren betroffen: Schlafstadt-Türme, Reihen-, Einfamilienhäuser sogar,
Grillöfen, Gartenschaukeln, die Autos der Nachbarn,
geparkt am Straßenrand – einer, ganz außer sich, weinend fast,
zeigte auf seinen Kopf: Hier, durch mich hindurch!

 

Abschied von Manhattan

Die Brücken drehen sich und steigen,
das schiere Blau ist´s, was sie
von den Pfeilern hebt.

Die Front der Wolkenkratzer trotzt noch immer
gegen irgendetwas an, der Gegner
blieb einfach weg.

Schwarz, ocker, violett – ohnmächtig lassen
die Kolosse sich´s gefallen, daß späte Sonne
ihnen die Rippen zählt.

Broadway, Wallstreet ade! Der große Rummel,
Benares am Hudson, siebenmal
zuviel umgesetzt.

Die Möglichkeiten verbraucht, Freiheitsende.
Da drüben Immigration-Island… Hierher
lief einmal die Welt zusammen!

 

Wiedergeburt

An der Ausfallstraße Tel Aviv-Jerusalem
in einem Häuserwinkel ein Friedhof
für ein Auto.

Das Getriebe ist ausgeschüttet, das Eisen
geht über in Morgensonne, Rost,
Goldrute, Ginster.

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