Der Bundespräsident und der Schuh
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Die häufigste Forderung, die im Verlauf der Diskussion um den Hauskredit des Bundespräsidenten erhoben wurde und wird, ist die nach „vollständiger Aufklärung der Tatsachen“. Diese Forderung, meine ich, macht wenig Sinn. Es geht in dieser Affäre um etwas anderes als eine komplette Übersicht über eine endliche Zahl von „Fakten“ („Alles muss auf den Tisch!“). Die Kette der Äußerungen des Präsidenten im Zusammenhang der „Hauskreditaffäre plus x“ ist nicht auf die geäußerten „Inhalte“ reduzierbar und damit auch nicht abgrenzbar. Worum sonst geht es aber dann? Christian Wulff selbst hat es in einem Interview indirekt ausgesprochen: „Ich bin ja auch – nur – ein Mensch“! Es geht längst um ihn als Person mit all ihren individuellen Dispositionen, Neigungen, Gewohnheiten des Sprechens und Handels. Nun kann die völlige Durchschauung einer Person ebenso wenig Ziel eines öffentlichen Klärungsprozesses sein wie die Abgrenzung einer endlichen Zahl relevanter Fakten in einer Affäre wie dieser.
Was dagegen möglich, ja unvermeidlich ist, besteht darin, dass sich in der Wahrnehmung einer bestimmten Verhaltenstendenz von Christian Wulff eine hinreichende Deutlichkeit herstellt. Eben das, meine ich, ist in den letzten Wochen geschehen. Woran sich diese Tendenz ablesen ließ, war eine Kette von Reaktionen Wulffs auf die Versuche der Medien und der politischen Opposition, ihm ein unkorrektes (strafbares?) Verhalten nachzuweisen. Abgesehen von heiklen Ferienaufenthalten und einer von einem Freund bezahlen Werbung für ein Buch, gehören alle Vorwürfe in den Rahmen der Affäre „Hauskredit plus x“. Das Faktische daran ist bekannt und kann ohne Indiskretion rekapituliert werden.
Christian Wulff hat eine Scheidung und eine Neuverheiratung vollzogen. Die neue Familiengründung wollten er und seine Frau (mit ihrem Kind) in einem eigenen Haus vollziehen. Zu dessen Erwerb bedurfte es eines Kredits. Den hätte er sich gleich von einer Bank besorgen können. Aber zu den Freunden Wulffs gehört auch ein sehr vermögender Mann, der außerdem ein „väterlicher Freund von Jugendzeiten an“ ist. Die Dauer und die emotionale Intensität der Beziehung bildeten für Wulff offenbar einen Mantel von Selbstverständlichkeit, der die Annahme eines privaten Kredits moralisch deckte. Aber diese Gewissheit, „Ich tue nichts Unrechtes, wenn ich von einem väterlichen Freund einen Kredit annehme“, grenzte an eine Ungewissheit: „Werden alle um mich herum das ebenso sehen wie ich?“ Die Befürchtung: „Vielleicht nicht – haben sie doch als politische Gegenspieler oder als Konkurrenten einen notorisch kritischen Blick auf mich“. Als dann prompt eine entsprechende Anfrage im Landtag von Niedersachsen gestellt wurde, hat Christian Wulff eine Antwort gegeben, die, wie er später selbst sagte, „nicht der Gradlinigkeit entsprach“, für die er selbst (eigentlich) stehe. Er hatte, wider seine eigenen Prinzipien, eine sprachliche Mehrdeutigkeit erzeugt, eine kommunikative Grauzone aufgesucht, einen „gleitenden Übergang“ zwischen der „exakten Wahrheit“ und einer „Gerade-noch-Wahrheit“ vollzogen. Diese Verhaltensweise hat sich, Wulffs eigenen Grundsätzen zum Trotz, mehrfach wiederholt – man kann auch sagen, Wulffs Verhaltenweise hat sich in dieser Tendenz stabilisiert. Bis hin zu dem emotional hochgradig schwankenden, zwischen verschiedenen Sprechakten geisternden Text, den Wulff dem Chefredakteur von Bild auf dessen Mailbox gesprochen hat: Mahnen, Drohen, Flehen.
Die Deutlichkeit, in der eben diese gleitende, mischende, taktierende Verhaltensweise inzwischen hervorgetreten ist, lässt nichts zu wünschen übrig. Da kommt nicht Neues mehr, da ist längst ein „Mensch in seinem Widerspruch“ vor die Augen einer konsternierten Öffentlichkeit getreten. „Und das soll unser Bundespräsident sein?!“ „Soll er es noch sein?“ „Kann er es nicht mehr sein?“
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In der langen öffentlichen Diskussion um die Affäre „Hauskredit plus x“ hat sich nicht nur der Bundespräsident verdeutlicht, sondern auch alle, die sich daran beteiligt haben: die politischen Funktionsträger aus den verschiedenen Parteien, die Agenten der Medien, zahllose Einzelne (in Leserbriefen, Blogs usf.) und verschiedenen Aktionsgruppen von „Bürgern“.
Besonders übersichtlich und besonders gut antizipierbar waren die Stellungnahmen der Vertreter der einzelnen Parteien, der Opposition, der Koalitionsvertreter, der Vertreter der Regierung im Spannungsfeld der Fragen: Fordern wir Rücktritt des Präsidenten oder nicht? Benutzen wir die Affäre als Anlass, über das Amt selbst nachzudenken – etwa darüber, ob der Präsident nicht auch vom Volk (direkt) gewählt werden könnte? Beziehen wir allgemein moralische Erwägungen mit ein, z. B. die, wie viel Verständnis einem menschlich-allzumenschlich agierenden Präsidenten entgegenzubringen sei. Vor einem besonderen Dilemma standen/stehen die Medienvertreter: „Haben wir ein Interesse an der Beendigung der Affäre? Teils, teils. Ihre Fortdauer steigert unseren Umsatz, unser Engagement für eine rasche Klärung steigert unseren Ruf als moralische Instanz.“
Die Dauer der Diskussion hat längst zu Überdruss geführt. Da weder „Neues“ dazukommt, noch eine „Lösung“ in Sicht ist, wächst der Überdruss weiter – die Töne werden schriller. Die Affäre entwickelt sich in eine Übertreibung hinein. Ein Fall, an dem das besonders deutlich sichtbar geworden ist: die Demonstration von etwa 400 bis 500 „Bürgern“ mit jeweils einem Schuh in der Hand.
Wie kommt der Schuh vor den Amtssitz des Bundespräsidenten in Berlin?
Die Antwort ist nicht einfach. Offenbar handelt es sich um einen Import, einen Symbol-Import. Er hat zwei Herkünfte. Die Erste ist kulturhistorisch: In der „arabischen Welt“ zeigt man jemandem den Schuh, wenn man dem Betreffenden seine Verachtung ausdrücken will. Diese Symboltradition war in Deutschland kaum bekannt, ist nur zweimal in den Fokus unserer Aufmerksamkeit geraten: als gegen Ende der Amtszeit von George W. Bush in Bagdad ein Schuh nach ihm geworfen wurde, und vor einem Jahr in Kairo, als auf dem Tahrirplatz mitten in eine Fernsehübertragung Mubaraks hinein viele Tausende von Schuhen geschwenkt wurden.
Bush war Bush, und Mubarak war ein Tyrann, der sein Land über mehrere Jahrzehnte entmündigt und ausgebeutet hatte. Allein aus der Zeit der Revolutionstage hat er Hunderte von Leben auf dem Gewissen, und wenn man seine ganze Herrschaftszeit einbezieht, sicher Zehntausende. Er ist inzwischen angeklagt und verurteilt worden, ihm droht die Todesstrafe.
Christian Wulff mit allerlei mitgebrachtem Schuhwerk, Plastiksandalen, Hauslatschen, vor der Nase herumzufuchteln, ist nicht nur ein Symbolklau und ein Geschichtsplagiat, sondern auch ein Ausdruck von Realitätsverlust, über den die Bestohlenen, die Ägypter, die vor einem Jahr ihr Leben riskierten, nur den Kopf schütteln können: „Was machen denn die da in Berlin?!“
Beides, dass es tatsächlich solche Wut-Schuh-Bürger in Deutschland gibt, und die Erfahrung, dass absurde Happenings sich mindestens ebenso einprägen wie vernünftige Argumente, weist in die gleiche Richtung: Die Diskussion um „Hauskredit plus x“ dauert schon zu lange. Das Verhältnis zwischen dem amtierenden Präsidenten und seinen Mitbürgern hat eine Entwicklung durchlaufen, die sie immer weiter voneinander entfernt hat, das Verständnis füreinander hat sich abgebaut. Was die Bürgerseite angeht, kann/muss man sagen: Vertrauen ist geschwunden. Wir, die Bürger, und dieser Präsident sollten uns trennen.