Was heißt da ‚Wissenschaft’?

Zum Fall der AnNette Schavan

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Seitdem Auffälligkeiten an der Dissertation einer Politikerin bekannt geworden sind, ist eine beträchtliche Welle öffentlich geäußerten Interesses aufgelaufen – wenig verwunderlich, handelt es sich um niemand anders als die gegenwärtige „Wissenschaftsministerin“ selbst, Annette Schavan. Große Worte werden bemüht, weite Horizonte eröffnet. „Regeln und Ethik der Wissenschaft“ werden erörtert, sogar die historische Dimension der „Forschung“ ist ins Spiel gekommen: Haben sich die Ansprüche, die an „korrektes Zitieren“ zu stellen sind, im Verlauf der drei Jahrzehnte erhöht, dem Zeitraum, vor dem die fragliche Dissertation entstanden ist?

Der Abdruck zweier Seiten der Dissertation als Faksimile und deren Kontrastierung mit Passagen aus Publikationen Anderer, die Frau Schavan in ihre Arbeit integriert hat, in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Oktober (Seite 2) eröffnet die Möglichkeit, das Problem, um das es geht, in einem öffentlichen Bezugsrahmen zu konkretisieren. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Seite 113 der Dissertation von Frau Schavan und deren Entsprechung in Antoni J. Nowaks Buch Gewissen und Gewissensbildung (dort S. 47 bis 48).

Die allgemeinen Vorgaben zu einer Dissertation sind einfach: Zu dem Thema, das ich mir gewählt habe, (a) mich selbst zu äußern und (b) die Ansichten möglichst Vieler, die sich vor mir zu diesem Thema geäußert haben, in meine Darlegung einzubeziehen. Diese beiden Vorgaben ergänzen und bestätigen einander: Je mehr Äußerungen anderer Autoren ich einbeziehe, desto mehr kann ich meine eigene Sicht der Dinge präzisieren und damit zugleich die Bedeutung und Reichweite meines Themas belegen. Anders ausgedrückt: Die Herbei-„Zitierung“ möglichst vieler Äußerungen Anderer liegt im Interesse meiner Arbeit, d. h. in meinem Interesse und im Interesse ‚der Wissenschaft’ zugleich.

Versetzen wir uns in die Situation von Frau Schavan, als sie damals vor 32 Jahren drauf und dran war, die Seite 113 ihrer Dissertation niederzuschreiben, während die Seiten 47 und 48 von Nowaks Schrift „Gewissen und Gewissensbildung“ vor ihr lagen.

Da hatte sie nun Äußerungen eines anderen gefunden, die ihrer eigenen Auffassung eines bestimmten thematischen Aspekts sehr nahe kamen. Was für ein Glück, könnte man meinen: Indem ich diesen Autor zitiere und das Zitat in meinen Gang der Darlegung einordne, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, ich belege, dass ich mit meinem Aufgriff des Themas nicht allein bin, und: Ich kann, wie und soweit ich will, die Einordnung der Worte/Sätze des Anderen in meinen Gedankengang dazu nutzen, durch die Markierung einer (und sei es noch so feinen) Differenz, meinen eigenen Themaaufgriff zu schärfen.

 

Was nun tat Frau Schavan damals?

Sie übernahm die Worte und Sätze Antoni J. Nowaks in ihren Text und verzichtete darauf, sie als seine zu markieren! Was für ein Verlust! Ein mich/meine Arbeit betreffender, anregender Beitrag eines Anderen ist argumentativ wertvoller als ein Mehr an eigenem Bewusstsein – von dem ich ja jederzeit beliebig viel formulieren kann. Hier liegt offenbar ein Missverständnis Frau Schavans hinsichtlich dessen vor, was der Wissenschaft und ihr selbst als Wissenschaftlerin dienlich gewesen wäre. Daraus kann man folgern, dass es Frau Schavan gar nicht so sehr um ‚die Wissenschaft’ ging – dass sie diese sozusagen „verfehlte“, ob bewusst oder aus Versehen, dürfte schwer zu unterscheiden sein, auch für sie selbst. „What a chance missed!“, wie es im Lord Jim von Joseph Conrad heißt.

Ist das verwerflich? Vielleicht nicht so sehr.

Aber die Sache hat noch einen anderen Haken, und der ist heikler.

In die Passagen, die Frau Schavan von Antoni J. Nowak übernommen hat, sind drei Zitate eingefügt, die von einem dritten Autor, Igor A. Caruso, stammen. Diese Zitate hat Frau Schavan in ihren eigenen Text so vereinnahmt, dass sie einfach die Zahlen der betreffenden Fußnoten bei Nowak in die Zählung der Fußnoten in ihrem eigenen Text einpasste – unter leichter Änderung der Zitierweise, einer Änderung, die darauf hinweist, dass sie mit Zitiertechniken durchaus vertraut war. Damit ist aber nun etwas ganz anderes passiert: Die Verweise eines anderen auf Äußerungen eines Dritten und deren Einordnung in den Text sind damit zu ihren Funden und ihrer Einordnung der Funde geworden. Was sie dem Autor Nowak auf diese Weise „genommen hat“, sind nicht nur dessen „Gedanken“, sondern dessen Arbeit. Man kann (mit B. Brecht) in Sachen „geistigen Eigentums“ lax sein, aber im Umgang mit der Arbeit eines anderen, die immer auch Mühe und Lebenszeit kostet, kann man es nicht. Diese Art von Fälschung ist Klau.

 

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Fälle wie der von Annette Schavan häufen sich in letzter Zeit. Die entsprechenden Parallelfälle sind inzwischen oft genug benannt und aufgezählt worden. Dass sie jetzt herauskommen, hat mit zweierlei Umständen zu tun: (a) Die Algorithmen des Internet ermöglichen Textkontrollen und Textvergleiche der Art, um die es hier geht, in einem Bruchteil der Zeit und des Arbeitsaufwands, der bisher nötig war. (b) Die Rolle des Politikers hat an Geltung eingebüßt, das Bedürfnis, der Wunsch, führenden Politikern Schaden zuzufügen, ihre Karriere zu zerstören, indem man sie „entlarvt“, hat zugenommen.

Es ist längst, nein, schon lange, viel zu lange, möchte man sagen, eine etablierte Praxis, sich durch den Erwerb des Doktortitels in den „Geisteswissenschaften“, eine allgemeine, völlig unspezifische, gesellschaftlich aber gleichwohl honorierte Qualifikation zu erwerben. Die Eingangsqualifikation in den Beruf eines „Geisteswissenschaftlers“ ist heute –auch und ununterscheidbar – eine Art höherer Intelligenztest, verbunden mit einer nebulösen Qualität von „Askese“(?), „Wahrheitssuche“(?), jedenfalls „höherer Bedeutung“. Dass das so ist, dass Hochschullehrer und ein großer Teil ihrer Doktoranden hier paktieren, weiß jeder. Zum Prestige des Hochschullehrers in der Wissenschaftlergemeinschaft trägt es bei, möglichst viele Doktoranden (eine „große Schule/Schülerschaft“) zu haben, das Prestige, das der Doktorand sich von seinem Titel verspricht, liegt anderswo. Wie es kommt, dass diese Wertediffusion und Geltungsverquirlung sich so hartnäckig hält, obwohl doch alle Beteiligten und auch wohl der größte Teil des Publikums weiß, was vor sich geht, ist schwerer zu erklären.

Man kann die Begriffsverwirrung mit der immer noch üblichen Bezeichnung des Fachbereichs in Verbindung bringen: „Geisteswissenschaften“. Was ist in dieser Sprachverwendung „Geist“? Kein vernünftiger Mensch würde sich anheischig machen, hierauf eine konsensfähige Antwort geben zu können. Versucht werden Alternativen wie „Kulturwissenschaften“, „Deutungswissenschaften“, „Bewusstseinswissenschaften“. Aber das Interesse, an dem ominösen „Geist-Begriff“ festzuhalten, scheint zu überwiegen. Der Begriff „Geist“, statisch und unanschließbar an Empirie, wie er ist, hat seine kommunikativen Vorteile und seine Traditionsmacht. Er kommt in den Schriften der heute schreibenden Philosophen ebenso vor wie – seit eh und je – in der Theologie und, erstaunlicherweise, in der Wissenschaft vom menschlichen Gehirn (bei Wolf Singer ebenso wie bei Antonio R. Damasio oder bei Michael Tomasello). Er funktioniert in vielerlei Weise, als black box, als Fahrstuhl oder als Falltür. Seine Pauschalfunktion: Die tradierte Mehrdeutigkeit im kommunikativen Spiel zu halten. Die wichtigsten Detailfunktionen: einen Anhauch von Metaphysik wehen zu lassen, die Unterscheidung zwischen „Schöpfung“ und „Evolution“ weiter aufzuschieben.

 

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Im allgemeinen Trüben liegt es nahe, auch individuell ein wenig im Trüben zu fischen. Was davon zu Bewusstsein kommt, was nicht, ist von außen nicht zu unterscheiden. Die Grenzen zwischen Arglosigkeit, Ahnungslosigkeit und Sorglosigkeit erscheinen fließend. Ein gewisses Indiz ergibt sich daraus, wie jeder Einzelne in der Situation des Ertappt-Seins reagiert. Der Fall Schavan ist nicht der Fall Guttenberg. Als sie ihre Dissertation einreichte, war sie offenbar überzeugt, im Rahmen der üblichen Doktorarbeiten eine gute abzuliefern. Ihr Doktorvater scheint die Sache ähnlich gesehen zu haben und immer noch zu sehen. (Der Doktorvater Guttenbergs dagegen hat sich über das Ausmaß der unmarkierten Übernahmen – und die Tatsache, dass er selbst sie übersehen hatte – betroffen gezeigt und dem ehemaligen Schüler die Loyalität entzogen.) Der Doktorvater aber scheint mir eine entscheidende Rolle zu spielen, eine Aberkennung des Titels gegen sein formelles und veröffentlichtes Bekenntnis, die Arbeit nach wie vor zu decken, schwer möglich. Er war für Frau Schavan beides, Vertrauensperson und Autorität, und in der zweiten Funktion verkörperte er für sie nicht nur das Prinzip Wissenschaft, sondern auch das Prinzip Üblichkeit.