1
Wen oder was sehen wir, wenn wir den Bundespräsidenten oder die Bundeskanzlerin auf dem Fernsehschirm oder auf einem Zeitungsfoto sehen? Eine Person? Einen Vertreter des Berufsstands „Politiker“? Die „Verkörperung“ eines Amtes? Von allem etwas. Worum es geht, sind Proportion und Mischung. Wie viel Individualität mischt sich ein in die Ausübung eines Staatsamts? Welche Rolle spielt dabei die Inszenierung der Körperlichkeit? Antworten auf solche Fragen besagen etwas über die reale Verfassung des Staates.
Mit den wachsenden technischen Möglichkeiten der „bildgebenden Medien“ hat auch die körperliche Präsenz der Amtsträger an Bedeutung gewonnen – je bedeutender ihr Amt ist, desto mehr. Das heißt nicht, dass wir heute ein genaueres, ein schärferes Bild der jeweiligen Person haben, die das Amt ausübt. Da in unserem Staat die Medien nicht zentral gesteuert sind, hat die „öffentliche Erscheinung“ unserer führenden Politiker eine beträchtliche Streubreite. Nicht nur, dass die verschiedenen Verlage und Sender ihre Körperlichkeit in verschiedener Tendenz darbieten, jeder einzelne Bürger kann sich von ihnen je nach psychologischem Kalkül, politischen Einstellungen und sonstigen Vorlieben sein eigenes Bild machen. Sicher, bestimmte Merkmale sind unübersehbar. Kohl hatte etwas „Massiges“, Wulff war „irgendwie stattlich“, Schröder eher „sportlich-energetisch“ und Köhler „schmal“. Aber für die einen war die „Massigkeit“ Kohls vertrauenerweckend, für andere „plump“, für die einen hatte Köhler etwas „Asketisch-Diszipliniertes“, andere dagegen empfanden ihn als „karg“, „scheu“, „irgendwie auf der Flucht“.
Und noch etwas, das einer allzu drastischen ‚Personalisierung’ unserer Amtsträger entgegensteht: Offenbar wurden seit Bestehen der Republik die höchsten Staatsämter mit einer hinreichend verlässlichen Konstanz ausgeübt – verfassungskonform. Verfassungsbrüche (wie in der „SPIEGEL-Affäre“) waren selten und wurden als Ausnahmen wahrgenommen. An diese Verlässlichkeit haben wir uns gewöhnt. Die Ämter selbst, so scheint es, haben Umrisse angenommen, die so belastbar sind, dass die Individualität der Amtsträger gelegentlich als Variation der Amtsführung erscheinen kann. Zu dieser Stabilisierung hat ein Merkmal der Amtsführung besonders beigetragen: die strikte Einhaltung der von der Verfassung vorgegebenen Amtszeit. Nur einmal, 2005, beim Übergang der politischen Macht von Schröder auf Merkel, noch am Wahlabend in der sogenannten „Elefantenrunde“, sah es für ein paar Minuten so aus, als könne Schröder sich nicht von seinem Amte trennen, aber er selbst hat dem Anflug von Autokratie rasch ein Ende bereitet. Jedenfalls hat sein Auftritt, der wie ein Spuk aus einer anderen Welt erschien, niemandem nachhaltig Angst eingejagt.
Zumal unsere Bundespräsidenten haben ihre Körperlichkeit in einer würdevollen Unpersönlichkeit dargeboten. Bei all ihrer Verschiedenheit nach Alter, Statur, Temperament blieb ihre Auslebung des Amtes so genormt, dass sie – tendenziell – unbestimmt alt erscheinen konnten und ihre Männlichkeit kaum eine Rolle spielte. Mit einer Ausnahme, die prompt aus dem Ruder lief: die kurze Präsidentschaft Christian Wulffs. Auch er war in der medialen Präsentation – abgesehen von einzelnen glamourösen Auftritten in Ferienquartieren guter/reicher Freunde – jeweils nur in der amtsüblichen Kluft/Haltung/Attitüde zu sehen, aber seine zweite, sich als pointiert jung inszenierende Frau sorgte für eine ungewöhnliche Präsenz des Körperlichen. Die notorische Paarigkeit der beiden fügte der Präsidentenrolle einen Anflug erotischer Intimität hinzu. (Man beachte den Unterschied zwischen dem Auftreten Bettina Wulffs und dem der Lebenspartnerin Joachim Gaucks!) Nicht zufällig, scheint mir, spielte bei dieser Variation des Präsidentenamtes das Geld eine Rolle. Ein angemessenes eigenes Haus für die „junge Familie“ war – bereits vor Amtsantritt – zu erwerben gewesen, die Folgen aber wirkten fort. Als Darlehensgeber hatten sich wiederum gute/reiche Freunde angeboten, die Sphären von Amt und Privatheit vermengten sich, und das Unheil nahm seinen Lauf.
In diesem Rahmen von Verlässlichkeit staatlicher Ordnung gewinnt das Körperliche, das allem Handeln, auch dem politischen Entscheidungshandeln, zugehört, eine andere, eine begrenzte, aber nicht unwichtige Funktion, die zur Konturierung, Veranschaulichung, Popularisierung der Politik beiträgt: die episodische Funktion, wie ich sie nennen möchte. Sie macht Politik erzählbar und hat unweigerlich mit Inszenierung, Pointierung, Deutung zu tun – wobei nicht immer deutlich wird, wer den größeren Anteil an der Pointierung leistet: der Politiker selbst oder die medialen Agenten.
Zweifellos spielt die Episodenbildung beim Amt des Kanzlers/der Kanzlerin eine größere Rolle als bei dem des Präsidenten. Machtausübung vollzieht sich nicht ebenso regelhaft (normativ) wie Repräsentieren. Das gilt besonders für Entscheidungen im Amt, die plötzlich getroffen werden müssen, die unweigerlich dem Risiko der „Spontaneität“ ausgesetzt sind. In diesen Fällen ist derjenige, der die Entscheidung trifft, „mit sich“ allein, mit seiner Tages- und Augenblicksform, seinen Neigungen und Gewohnheiten, seinen Ängsten und Euphorien. Manchen Politikern fallen solche exponierten Entscheidungen leichter, manchen schwerer, manchen sind sie willkommen, andere fürchten sie, der eine wehrt sie ab, so gut er kann, der andere sucht sie förmlich. Nicht zufällig, scheint mir, erreichen diese riskanten Akte der Machtausübung oft den Körper des Handelnden und beziehen ihn folgenreich mit ein. Dieser Zusammenhang wird nicht immer sofort evident, meistens erst in seiner Re-Inszenierung durch die Medien. So steht im Zentrum der – bereits erwähnten – SPIEGEL-Affäre, wie sie heute erzählt wird, ein momentaner Akt: der Griff des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauss zum Telefonhörer, der zu dem Gespräch führte, das von Strauss lange abgestritten wurde, weil es nicht „seines Amtes“ war: Er hatte dem deutschen Militärattaché in Madrid die Weisung gegeben, die spanischen Behörden zur Verhaftung von Conrad Ahlers, des Autors des inkriminierten Spiegel-Artikels „Bedingt abwehrbereit“, zu veranlassen …Als der neu gewählte Bundeskanzler Willy Brandt seine erste Reise nach Polen machte, um seine „Ostpolitik“ einzuleiten – einer der größten Richtungswechsel in der deutschen Außenpolitik überhaupt -, tat er das mit einem Kniefall. So weit bekannt, fiel die Entscheidung dazu spontan, jedenfalls wusste der Außenminister nichts davon. Dass Brandt bereit war, die moralische Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches zu übernehmen und die östlichen Nachbarn um Vergebung zu bitten, hatte sich bereits abgezeichnet, aber die körperliche Auslebung des Entschlusses war es, was den Eklat auslöste: Wut auf der Seite der National-Konservativen in Deutschland, Überraschung, zögernde Zustimmung und den Anfang von Vertrauen in die BRD in Polen … Ehe Helmut Schmidt, abgesehen von seiner „Schmidt-Schnauze“, ein Muster der korrekten Amtsführung bis hin zur immer makellosen Kleidung, den Einsatzbefehl für das Kommandounternehmen in Mogadischu gab, hatte er – wie er selbst für die Geschichtsschreibung zu Protokoll gegeben hat – die handschriftlich abgefasste Rücktrittserklärung für den Fall des Scheiterns auf seinem Dienstschreibtisch hinterlegt … Von Angela Merkel, der ersten Kanzlerin, war eine Zeitenwende auszuleben: ihre Weiblichkeit und ihren individuellen weiblichen Körper in das Amt einzubringen. Neuland, das – wie? – zu betreten war. Make-up, Frisur, Kleidung. Wer wollte bestreiten, dass sie dieser Herausforderung mit viel Würde und nicht ohne Anmut begegnet ist? Freilich, die Beengung, in die sie dabei geriet, war ihr gelegentlich anzusehen. Anzughosen immer gleichen Zuschnitts, mehr oder weniger glückliche Jacketts, soliden Schmuck am Hals. Einmal, wenigstens einmal, hat sie sich Luft verschafft und über die Stränge geschlagen: Bei einem ihrer Besuche der Festspiele in Bayreuth hat sie, ihren Mann zur Seite, ein tiefes/breites Dekolleté gezeigt: Da habt ihr’s!
2
Putin ist, ob er als Präsident oder als Ministerpräsident regiert, körperlich gegenwärtig, und die staatlich kontrollierten Medien verbreiten diese Präsenz pausenlos und überallhin.
Putin reitet, reitet mit nacktem Oberkörper, Putin taucht nach antiken Schätzen im Meer, fliegt eigenhändig Hubschraubereinsätze zur Bekämpfung von Waldbränden; er begleitet Kraniche in einem Leichtflugzeug und kümmert sich um Wohl und Wehe des Sibirischen Tigers. Er posiert als Jäger mit Strecke. Er zeigt sich als Judokämpfer – und weil die Judo-Schlabberjacke nur Griffansatz für den Gegner ist und der Gürtel sofort verrutscht, zeigt er auch hier seinen muskulösen Leib: Heldenleib, Herrscherleib. Endlos lang der Weg, den er bei der Einführung in das Präsidentenamt – in schwarzem Anzug, aber mit wiegendem Schritt, der die notorische Amtskluft Lügen straft – das Spalier derer durchschreitet, die ihm körperlich huldigen. Putin, die Verkörperung der Macht. Männlich markierter Macht. Seine Familie ist so gut wie unsichtbar. Ebenso bleiben die Sicherheitskräfte diskret außer Blick. Seine leibliche, der Natur seiner Herrschaft entsprechende Umgebung sind die Mitglieder der von ihm gegründeten Partei „Einheit Russlands“, zumal deren Jugendorganisationen. Wie es früher in Deutschland die HJ und den BDM gab, gibt es heute die Putin-Jugend, zumal die Putin-Mädchen, deren Jugendfrische und erotischer Charme der Herrschaft des Staatskörpers ihre Vitalität geben. Das alles übersteigt die Dimension des Trivial-Politischen, der Alltäglichkeit der Amtsführung. Wer kraft seines Körpers zum Herrschen bestimmt ist, regiert nicht auf Zeit. Herrschaft, die einem von der Natur anvertraut ist, ist so unbegrenzt wie die Herrschaft kraft Gottesgnadentums. Die russisch-orthodoxe Kirche scheint nicht abgeneigt, ihren Teil zu einer Synthese zwischen beidem beizusteuern.
Auch Russland hat eine Verfassung.
Im Rahmen dieser Verfassung war es möglich, dass Jelzin am Ende seiner Präsidentschaft einen Mann namens Wladimir Putin, KGB-Beamter in Petersburg, zu seinem Stellvertreter ernannte, dass dieser ihn kurz darauf im Amt beerbte und ihm in seiner ersten Amtshandlung eine Amnestie für alle etwaigen Unrechtshandlungen gewährte. Die Wahl zum Präsidenten dann gewann er selbst. Die Wahl für die zweite Amtsperiode – natürlich – auch. Danach wäre eine dritte Amtsperiode nur durch eine Verfassungsänderung möglich gewesen. Als Putin bei einer Auslandsreise (zur jährlichen Sicherkonferenz in Davos) gefragt wurde, ob er vorhabe, die Verfassung zu ändern, hatte er einen Auftritt, der unübertroffen bleiben dürfte, wie lange er auch noch herrschen mag: Er, der gelegentlich „Mann ohne Gesicht“ genannt wird, zeigte ein leichtes Lächeln, sonst nichts, ein triumphierendes Lächeln. Diese, gerade diese Frage vor allen Kameras der Welt beantworten zu können! „Die Verfassung Russlands wird nicht angetastet.“ Was sich als Folgefrage aufdrängte, war damals in Davos nur so verblüfft wie lautlos zu formulieren: „Aber wie sonst wollen Sie denn an der Macht bleiben, Herr Putin?“ Ein paar Monate später wussten es alle: Ein Mann namens Medwedjew wurde zum russischen Präsidenten gewählt, und dessen erste Aufgabe bestand darin, Putin zum Ministerpräsidenten zu ernennen, seine letzte: ihn als seinen Nachfolger im Präsidentenamt zu nominieren. Innerhalb und außerhalb Russlands gab es Menschen, die während der Präsidentschaft Medwedjews unermüdlich nach Hinweisen auf seine „Unabhängigkeit von Putin“ gefahndet hatten und bis zuletzt hofften, er werde selbst Anspruch auf Wiederwahl erheben. Als keine der Erwartungen sich erfüllte, dämmerte die Realität. Alles war so, wie die Albträume es vorweggenommen hatten: Schattenspielerei. Auch dass die Amtsperiode des Präsidenten inzwischen auf sechs Jahre verlängert worden war, erwies sich jetzt als Teil des putinschen Kalküls, seine Herrschaft um – mindestens – zwölf Jahre zu verlängern. Der Stupor der Düpierten.
Erst die tatsächlich und quasi selbstverständlich vollzogene Wiederwahl Putins 2012 löste in Moskau einen Sturm des Protestes aus. Als habe der zynische Hin-und-her-Tausch der Staatsämter all das, was Putin bisher getan hatte, um seine Herrschaft zu festigen, zusammengerafft und übereinandergestapelt. Der Zusammenhang der Handlungen des Regimes kam ruckartig zu Bewusstsein: Die Möglichkeiten der Demonstration waren eingeschränkt, die Zulassung von oppositionellen Gruppierungen zur Wahl behindert, gewählte Abgeordnete absetzbar, nichtstaatliche Organisationen einer strikten staatlichen Kontrolle unterworfen worden. Vor allem aber trat die systemische Funktion der politischen Morde klarer denn je zutage: von Opposition oder gar Widerstand gegen das Regime abzuschrecken durch Todesangst, und die persönliche Verantwortung Putins: Wer total herrscht, ist final verantwortlich. Die Namen derer, die zu seinem Machterhalt getötet worden waren, Namen wie Politkowskaja, begannen nach der Farce des Ämtertauschs lauter zu schreien denn je.
3
Auch der stürmische, der verzweifelte Protest verhallte. Allzu evident war und ist, dass eine bürgerliche Opposition keine Chance hat. Eine reale Möglichkeit, einen Machtwechsel herbeizuführen, besteht nicht. Das hat auch mit dem gegenwärtigen Zustand der russischen Gesellschaft zu tun, der wiederum Folge ihrer Geschichte ist. Die Opposition ist zerstritten. Politische Meinungsbildung vollzieht sich wirkungsvoll nur in Moskau, kaum in anderen Großstädten, so gut wie gar nicht auf dem flachen Land. Die Hoffnungen auf „bessere Zeiten“ (nicht unbedingt auf Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Recht, auch nicht auf mehr Mitbestimmung, auf Bürgerrechte oder ein Mehr an individueller Freiheit) richten sich bei allzu vielen – immer noch und wieder – auf den einen, den gottgesandten Mann. Trotzdem, etwas ist dazugekommen.
Putin ist neuerdings Anlass für Spott und Gelächter geworden. Eine Spott-, Karikatur-, Satirewelle, die an- und aufläuft. Das hat mehr denn je mit der exzessiven Präsenz seiner Körperlichkeit zu tun. Kollagen, Fotomontagen, groteske Pop-Auftritte, festgehalten in Videoclips, die sich über YouTube, Twitter, Facebook verbreiten: Putin reitet – mit nacktem Oberkörper, versteht sich – auf einem Weißen Hai, Putin fliegt als Kranich unter Kranichen, Putin taucht und findet antike Preziosen, die er selbst versteckt hat, Putin löscht Waldbrände als Hubschrauberpilot mit eigener Hand, Putins Herrschaft, die durch irdische Mittel nicht zu stoppen ist, muss durch Gebete an die Gottesmutter selbst gestoppt werden. Und das Schlimmste: Sein 60. Geburtstag, der kürzlich zu feiern war, hat Anlass gegeben zu der Forderung, den „Opa“ loszuwerden. Junge Frauen gegen den alternden Helden!
Es heißt, dass „Lächerlichkeit tötet“. Eine idealistische Verkürzung. Aber es könnte sein, dass sich in der Entdeckung von öffentlichem Spott, Satire, Karikatur ein Wandel im Selbstverständnis der russischen Bürger andeutet. Der Gebrauch von Smartphones und Internet, die Teilnahme an digital verknüpften Netzwerken verstärken die Erfahrung, politisch mündig zu sein. Ein Frühling, der nicht nur arabisch ist, weht über das Schwarze Meer herüber. Aber die größte Ermunterung scheint von Putin selbst auszugehen. Von dem Menschen Putin, der nicht anders ist als alle Autokraten seit eh und je. Sein Machtstil wird kleinlicher, sein Anspruch, total zu herrschen, zwanghaft. Demonstrationen müssen immer früher „im Keime erstickt“, immer kleinere Gruppen von Protestierern müssen „zerstreut“ werden. Die Einmischungen in die Rechtsprechung werden unverhüllter. Die Unterstützung des Syrers Assad nimmt trotzige, ja selbstzerstörerische Züge an. Und dann noch das Lachen.