Zum Wandel des Interesses an anderer Kultur

Vortrag, gehalten an der Universität Berkeley, Januar 2013

Eine andere Kultur ist ein sonderbarer Gegenstand. Wir können sie nicht fixieren wie ein Naturwissenschaftler sein Objekt. Das hat damit zu tun, dass wir einer anderen Kultur nicht gegenüber stehen, sondern über unsere eigene mit ihr in Verbindung treten. Wir selbst bilden die Position, von der aus wir uns darauf beziehen – ein interaktiver Prozess. Dessen Entwicklung wird von unseren Interessen bestimmt, die zuerst einmal ganz privat sind. Jeder, der eine Fremdsprache lernt, tut das gewöhnlich im Hinblick auf seine Berufswahl und seine Karrierepläne, also im Rahmen eines individuellen Erfolgskalküls. Aber dieses private Kalkül bleibt nicht unbetroffen von den aktuellen politischen, wirtschaftlichen, finanztechnischen Beziehungen und den tradierten Annahmen voneinander, den sogenannten „Vorurteilen“, zwischen den betreffenden Ländern.
Diese interkulturellen Beziehungen befinden sich seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einem lebhaften Wandel. Die Gründe dafür liegen in politisch-historischen Prozessen, die jede einzelne Gesellschaft nötigen, sich international neu zu orientieren.
Drei Gründe für diese Neuorientierung will ich nennen: 1. Das Erlöschen der West-Ost-Konfrontation, hier Kapitalismus, dort Kommunismus – soviel Leid sie über die Menschheit gebracht hat, sie hat für Übersichtlichkeit gesorgt und die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, zwischen Gut und Böse erleichtert. 2. Die Kern-Bedeutung von ‚Kultur’ selbst, die bis dahin überwiegend affirmativ war (im Sinne von ‚Hochkultur’, ‚Weltkultur’), hat sich im Blick auf ‚andere Kultur’ in Richtung ‚Lebensweise’ verschoben und ist politisch-pragmatischer geworden. Eben dadurch ist es aber auch möglich geworden, die verschiedensten Aversionen und Aggressionen ‚kulturell’ zu begründen bzw. ‚als kulturell’ zu maskieren. 3. Schon vor dem Erlöschen des Ost-West-Gegensatzes hat der Prozess eingesetzt, den wir „Globalisierung“ nennen. Strukturen, Institutionen bildeten sich, deren Namen mit „Welt“ zusammengesetzt waren: „Weltmarkt“, „Welthandel“, „Weltbank“, „Weltwährungsfond“, „Weltverkehr“, „world-wide-web“, „Weltklima“ usf. Schon seit 1946 gibt es bekanntlich einen ‚Welt-Schiedsrichter’, die „Vereinten Nationen“. Dass diese ihre Funktion allenfalls provisorisch erfüllen konnten, hat den jüngsten Verlauf der „Weltgeschichte“ mitbestimmt. Das ist eben jetzt, aus Anlass der Ereignisse in Syrien, weltweit wieder zu Bewusstsein gekommen. Umso mehr vermissen wir Institutionen, die nicht gegründet wurden: z. B. einen Welt-Kommunikations-Rat (etwa: World Communication Council), der sich einzig und allein der Frage widmet, wie die aktuellen Welt-Konflikte bearbeitet werden können.
Das klingt wie ein Scherz. Aber als Wissenschaftler, der sich dem „Dialog der Kulturen“ verschrieben hat, sieht man sich neuerdings vor die Frage gestellt, ob und wie man sich der politischen Relevanz der eigenen Wissenschaft stellen will.
Bei der Beschreibung des Wandels in der Bezugnahme auf andere Kultur werde ich im Folgenden zwei Phasen und zugleich zwei Tendenzen unterscheiden. Erstens: das Zurücktreten des Interesses, eine andere Kultur zu objektivieren („So sind sie!“) oder zu feiern („Ihr Beitrag zur Weltkultur besteht darin, dass …“), zugunsten einer praktischen oder pragmatisch-politischen Orientierung („Das und das können wir von ihnen haben“, „Deswegen lohnt es sich, ihre Sprache zu lernen“, „Darin können wir mit ihnen kooperieren“); zweitens: eine Erweiterung des Interesses an anderer Kultur in globale Zusammenhänge hinein: „Mit wem können wir bei der Bewältigung weltweiter Probleme besser kooperieren, mit wem schlechter, mit wem gar nicht – und warum?“

1 Der Übergang von der affirmativ-kulturellen zur politischen Dimension

Ich möchte diesen Aspekt des Interessewandels an zwei Länderbeziehungen erörtern, wobei Deutschland jeweils einer der Beziehungspartner ist, an einer Fern- und einer Nah-Beziehung: deutsche Kultur in Japan und deutsche Kultur in Polen. Ich werde überhaupt nur auf Beispiele eingehen, in denen ich die erste Person („ich“ oder „wir“) verwenden kann: also auf solche interkulturellen Relationen, in denen entweder Deutschland oder Europa den einen Beziehungs-Pol bilden.

1.1 Das Deutsche in Japan

Fern-Beziehungen haben den Vorteil, dass sie wenig Konfliktanlass bieten und sich im übrigen zur Idealisierung eignen. Ein Beispiel dafür bieten heutzutage die individuellen Beziehungen, die über das Internet ausgelebt werden. In der Distanz des Cyber-space, kann jeder von sich das zeigen, kann jeder am anderen das wahrnehmen, was wunderbar ist, rein wunderbar und nichts als wunderbar. Eine ziemlich sichere Angelegenheit, solange man nicht auf die Idee kommt, sich auch leiblich nahe zu kommen, handgreiflich und per Augenschein überprüfbar.
Als ich in den späten 60er Jahren als Lektor für Deutsch nach Japan kam, wurde ich Gast und Teilnehmer an einer „Deutschland-Feier“: Goethe und der Rest. Wir Lektoren sprachen untereinander von der „deutschen Wolke“, deren Realität wir durch unsere bloße Gegenwart beglaubigten. In der Tat, Japan hatte bis dahin nur „gute Erfahrungen“ mit deutscher Kultur gemacht. Kein Wunder, denn das, was Japan davon aufgenommen hatte, war handverlesen. Um nicht missioniert und anschließend kolonisiert zu werden, hatte Japan sich von etwa 1600 bis 1860 vom Rest der Welt abgeschottet. Aber in den 50ger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde es von den „black ships“ des amerikanischen Commodore Perry gezwungen, seine Häfen dem Welthandel zu öffnen. Daraufhin beschlossen der damalige Kaiser Meiji und seine Berater, „die Fremden mit ihren eigenen Waffen zu schlagen“. Das hieß, dass man sich aus allen bedeutenden Ländern der Welt „das jeweils Beste“ holen wolle – um dann selbst noch besser darin zu werden. Von Deutschland holte man sich die Philosophie, die Geschichtswissenschaft, die Jurisprudenz, die Geographie – und die Medizin. Noch zu meiner Zeit als Lektor sprach man in Japan am Krankenbett Deutsch, das „Latein des Fernen Ostens“. Aber schon damals deutete der Wandel sich an, die „deutsche Wolke“ begann sich aufzulösen. Die deutschsprachigen medizinischen Lehrbücher machten englischsprachigen Platz, und die medizinischen Geräte kamen längst aus den USA. Aber auch die Interessen Deutschland gegenüber begannen sich zu verändern.
Als ich 1986 die Einladung bekam, an einigen japanischen Universitäten Seminare abzuhalten, informierte ich mich vorab, welche Gesprächsthemen gewünscht waren. Ich machte meinerseits eine Liste mit Vorschlägen, auf der „kulturelle“, d. h. literaturvergleichende und literatur-didaktische Themen dominierten. Die Rückmeldung verblüffte mich. Ich hatte als ein Thema zur „aktuellen Landeskunde“ auch eine politische Rede, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945, in die Liste mit aufgenommen. Fast alle meine Gesprächspartner hatten dafür entschieden. Ein Interesse, das Deutschland und Japan zugleich galt: Richard von Weizsäcker hatte etwas gewagt, was auch in Deutschland nicht unproblematisch war: Er hatte die Nazi-Verbrechen während des Dritten Reichs nicht nur beim Namen genannt, sie nicht nur als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet, sondern er hatte bei allen betroffenen Völkern im Namen des deutschen Volkes dafür um Verzeihung gebeten – im Bundestag, vor der Weltöffentlichkeit. Es gab keinen Beschluss des Parlaments oder der Regierung, der ihn dazu ermächtigt hätte. Er, ein Einzelner, hatte sich da hingestellt und das getan! Diese Verantwortungsbereitschaft eines Einzelnen! Dieses individuelle Risiko! Was aus mir herausgefragt wurde, war, wie es dazu kommen konnte – und, verkappt darunter die Frage, warum es dazu in Japan nicht gekommen war. Ja, auch in Deutschland war das nicht selbstverständlich. Nein, viel früher hätte die Rede nicht kommen können. Warum nicht? Unmittelbar nach der Niederlage 1945 waren die Deutschen in eine Art Schock-Starre verfallen, während der sie über „ihren Hitler“ weder sprechen, noch überhaupt nachdenken wollten. „Hitler in uns“? Es gibt ein Dokument dazu: eine sozialpsychologische Studie mit dem Titel Die Unfähigkeit zu trauern aus den 60er Jahren. Die Autoren waren Alexander und Margarete Mitscherlich, das Buch war im Piper-Verlag erschienen – und der zuständige Lektor hieß Walter Hinderer, ein Name, den Sie vielleicht kennen, Walter Hinderer, der später in die USA und schließlich nach Princeton ging. In den 60er und 70ger Jahren gab es außerdem eine große Zahl literarischer Verarbeitungen der Folgen des Dritten Reiches, die man unter dem Stichwort das „Schweigen der Eltern“ bündeln kann. Von Ruth Rehmanns autobiographischem Roman „Der Mann auf der Kanzel“ über Gisela Elsners „Riesenzwerge“ bis zu Christoph Meckels „Suchbild. Über meinen Vater“. Das war nicht nur für Japan interessant. „Eltern im Faschismus“ war der Titel einer Vorlesungsreihe, die ich in den 80er Jahren am Institut Deutsch als Fremdsprache in München gehalten habe. Solche Texte waren es, die der Frage nach dem Verhältnis jedes einzelnen Deutschen zu Hitler, zum Faschismus, zum Größenwahn des Dritten Reiches, zum Holocaust zum Durchbruch verhalfen – aus der stummen Innerlichkeit heraus in das Sprechen darüber.
In Japan hatte diese sozialpsychologische Durcharbeitung des Themas nicht stattgefunden – sie hat es bis heute nicht. Es ist gegenüber China und Korea zu politische Erklärungen des Bedauerns für die Kriegsverbrechen in der Mandschurei gekommen, für die Gräueltaten bei der Eroberung Nankings, die medizinischen Menschenversuche während der Besatzungszeit, aber deren Verbindlichkeit blieb schwer einschätzbar. Eben jetzt wieder, im Streit um die Senkaku-Inseln, spielt die mythische Selbstbegründung der Japaner („Wir, ein unvergleichliches Volk …“) eine heikle Rolle.

1.2. Das Deutsche in Polen

Deutschland/Polen – Nachbarländer, die seit eh und je durch die Lebenspraxis eng verflochten sind, über große Strecken der Geschichte aber verfeindet waren. Ein typisches Beispiel für Nah-Fremde, eine Beziehung, die tendenziell konflikthaft ausgelebt wird. Dabei entsteht eine eigenartige Unübersichtlichkeit: Das Interesse an der eigenen und das an der anderen Sprache und Kultur scheinen sich zu verknoten. Es sieht so aus, als benötige die eine Sprach-Kultur die andere, um sich selbst zu bestätigen. Die Bezugnahme aufeinander wird eine Sache der Konkurrenz, und je unversöhnlicher sie ausgelebt wird, desto mehr wird das Bestehen auf der eigenen Sprach-Kultur zu einer Frage der Identität – von Einzelnen, von Familien, Sippen, Dorfgemeinschaften. („Wie kann er/sie einen Polen/ eine Deutsche heiraten?!“)
Seit der Zeit der ersten sogenannten „polnischen Teilungen“ im 18. Jahrhundert zwischen Russland, Preußen und Österreich) waren deutsche Bauern in den westlichen Landesteilen Polens ansässig geworden – oft als unwillkommene Eindringlinge, wie dann wieder in der aggressiven Siedlungspolitik unter Bismarck. Andererseits wurden deutsche Handwerker im neunzehnten Jahrhundert, als Polen ein industrielles und handwerkliches Defizit hatte, regelrecht eingeladen und vom polnischen Staat bei ihrer neuen Existenzgründung unterstützt – etwa in der Textilbranche. Meine eigenen Vorfahren sind als Weber, eingeladen von der polnischen Regierung, am Anfang des 19. Jahrhunderts von Schwaben nach Polen emigriert und dort geblieben. Ein fruchtbares Miteinander, das 1939 mit der Eroberung Polens durch Hitlers Truppen hochproblematisch wurde und 1945 mit dem Ende der deutschen Besatzungs- und Unterdrückungszeit zu ihrem Ende kam.
Bis 1939 war Deutsch eine nicht nur geduldete, sondern anerkannte Minderheitensprache. Es gab deutsche Grundschulen und Gymnasien. Das endete 1945 abrupt. Eine deutschsprachige – wenn auch sehr reduzierte – Minderheit war zwar in Polen geblieben, aber sie wurde in ihrem Anspruch, die deutsche Sprachkultur beizubehalten, konsequent behindert. Trotzdem hielt die deutsche Sprache sich. Die Familien-, Sippen- und Dorfeinheiten klammerten sich förmlich daran, „kulturell deutsch“ zu sein. Hier kommt etwas typisch Europäisches ins Spiel. Etwas, das seine Wurzeln in der kleinräumigen Aufteilung Europas hat. „Sprachkultur“ wurde so ein beträchtlicher Teil der Identität des Einzelnen und der Kleingruppe.
Die verbissene Selbstbegründung aus der Sprache der Herkunftskultur hat Polen und Deutsche zu notorischen Kultur-Konkurrenten gemacht. Dass die deutsche Seite ökonomisch und militärisch überlegen war, machte die kulturelle Konkurrenz-Energie auf polnischer Seite nur umso größer. Die Kombinationen „deutsch“ und „protestantisch“ einerseits, „katholisch“ und „polnisch“ andererseits gaben dem Konflikt der Kulturen auch noch eine religiöse Dimension. Schließlich und vor allem aber ist festzuhalten: Die von Deutschen verübten Gräueltaten der Jahre 1939 bis 1945 konnten in Polen nicht vergessen werden.
Wieder war es der symbolische Akt eines mutigen Politikers, der eine Wende brachte: Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau vor dem Denkmal für den polnischen Aufstand von 1944 gegen die deutsche Besatzung. Er leitete eine neue Ostpolitik Deutschlands ein, die hasserfüllte Kultur-Konkurrenz begann sich abzuschwächen, lebenspraktische, vor allem wirtschaftliche Interessen begannen sich durchzusetzen. Man begann zu kooperieren.
Schon 1991, nur ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung und der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, wurde die Existenz der deutschen Minderheit von Polen förmlich anerkannt. Ein differenzierteres Minderheiten-Gesetz folgte. Seit 2005 gilt das Deutsche in Gemeinden mit mehr als 20% Deutschsprachigen als zweite Amtssprache, als sogenannte „Hilfssprache“, was u. a. bedeutet, dass Ortsschilder, Wegweiser etc. zweisprachig sind. Damit entfällt der Druck, der auf der deutschen Minderheit gelastet hat: der Zwang zur Selbstbegründung durch Sprache. Die – auf den ersten Blick – überraschende Folge: Die Bedeutung des Deutschen als Bildungs- und Identitätssprache ist, wie in den Volkszählungen von 2002 und 2011 ausgewiesen, deutlich zurückgegangen, ebenso die Zahl der Deutschlerner an Höheren Schulen. Deutlich weniger Polen nennen das Deutsche als ihre Erstsprache, weniger auch als ihre Zweitsprache. Die Gründe dafür, dass in den Bildungsinstitutionen andere häufiger Sprachen gewählt werden, sind völlig unpathetisch: die Möglichkeit, z. B. in den skandinavischen Ländern zu arbeiten, ist günstiger. Zugleich gilt aber auch: Man reist gern in Deutschland, nimmt überhaupt gern Kontakte über die Grenzen wahr. Polen und Deutsche fangen an, sich gegenseitig „normal“, „nett“ zu finden. Das Lernen der deutschen Sprache „nach Bedarf“, als Mittel für einen begrenzten Zweck, wie man es etwa an den Goethe-Instituten tun kann, hat nicht ab-, sondern zugenommen.
Und noch eine Entwicklung ist zu erwähnen: Die Geltung der deutschen Literatur als „Weltliteratur“ hatte an den polnischen Universitäten, zumal in Krakau, das Dritte Reich überdauert – ein erstaunlicher Vorgang. So groß war die Bedeutung deutscher „Geistesgeschichte“ in der polnischen Tradition verankert, dass Krieg und Naziterror die Verbundenheit mit Goethe, Kant und Hegel nicht auszulöschen vermochten. Aber auch hier wirkt der Entspannungs-Effekt. Die Zahl der Germanistikstudenten in Polen geht neuerdings zurück.

2 Die globale Dimension

Es gab und gibt eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit „fremder Kultur“ als solcher beschäftigt, die Ethnologie. Sie ist von Europa ausgegangen und hatte verschiedene Wurzeln, die zum Teil in die Zeit des Kolonialismus zurückgehen. Im Verlauf des 20. Jahrhundert hat sie sich selbst immer weiter skeptisch hinterfragt: Was tue ich eigentlich, wenn ich das Leben anderer Völker beobachte und ihr Seelenleben karthographiere?
Der wohl berühmteste Ethnologe des 20 Jahrhunderts war der Franzose Claude Levy-Strauss. Er verstand sich noch als einen von allen Interessen freien Beobachter. Die Anderen wurden in den Stand von Objekten des reinen Forscher-Geistes versetzt und das System, nach dem sich ihr Leben vollzog, mit Hilfe europäischer Begriffe entschlüsselt. Jean Paul Sartre, ein Kultur- und Zeitgenossen von Levy Strauss, reagierte darauf mit der Bemerkung: Wenn er die ethnologischen Studien von Levy-Strauss lese, komme es ihm so vor, als sei von einem Ameisenstaat die Rede. Anders der russische Ethnologe Bronislaw Malinowsky, der seine Rolle bereits als die eines „teilnehmenden Beobachters“ verstand. Der Amerikaner Clifford Geertz schließlich hat seine eigenen ethnologischen Studien nur noch als „dichte Beschreibung“ verstanden. Damit hat er den Zweifel an der Rolle des „interesselosen Beobachters“ auf den Punkt gebracht. ‚Dichte Beschreibung’ als Methode geht vom Einzelfall aus – die Position dessen, der den Einzelfall auswählt und ihn beschreibt, wird in die methodische Reflexion einbezogen.
Auch ich werde mich weiterhin im Sinne von Clifford Geertz, also positionell, auf andere Kultur beziehen.
Zwei gleichzeitige Ereignisse in verschiedenen Kulturkreisen sollen betrachtet werden, auf die wir Europäer außerordentlich lebhaft reagiert haben: der sogenannte „arabische Frühling“ und die Naturkatastrophe in Japan im März 2011, die zu einer atomaren Katastrophe führte.
Was haben diese beiden Ereignisketten miteinander zu tun? Kausal gesehen gar nichts. Aber in beiden Fällen wurde in der medialen Berichterstattung die kulturelle Distanz einfach übersprungen. Von den Ereignissen in Japan und in den arabischen Ländern um das Mittelmeer wurde in Europa so berichtet, als geschähe das alles nebenan.

2.1 Die Atomkatastrophe in Japan

Eine verständnisvolle Sympathie verteilte sich in zwei Richtungen: auf diejenigen, die von der Katastrophe leidend betroffen waren, und diejenigen, die sich gegen die Missstände auflehnten, die den Atom-Unfall erst möglich gemacht hatten.
Ein Wort, das ich in der Berichterstattung immer wieder gehört und gelesen habe, war „stoisch“ – von der antiken philosophischen Schule der „Stoa“ abgeleitet. Nun sind die Japaner keine „Stoiker“, die Tradition, aus der ihre „Selbstbeherrschung“ sich ableitet, zielt eher darauf, sich vor den Mitmenschen nicht zu entblößen – aber das Wort tat seine Wirkung. Es diente dazu, Japan und „den Westen“ zu parallelisieren – die Japaner konnten geradezu als „bessere Europäer“ erscheinen. Umso wirkungsvoller waren Fallbeispiele, die sich vor diesem Hintergrund abhoben: Fernsehspots, in denen die „stoische“ Selbstbeherrschung durchbrochen wurde. Zwei solche Mini-Ereignisse, die in den Medien besonders oft zitiert wurden, möchte ich anführen: In dem einen war ein Mann zu sehen, ein Mitarbeiter des Atomkraftwerks Fukushima, der daran beteiligt gewesen war, hochgradig verstrahltes Wasser ins Meer abzulassen – und der bei der bloßen Erwähnung dieses Vorgangs, der absichtsvollen Verseuchung des Meeres, in Tränen ausbrach. Die heftige, nicht mehr beherrschbare Erschütterung wurde offenbar von einem Gefühl ausgelöst, das umfassender war als individuelles Leid. Eine Deutung, die sich aufdrängte: Offenbar spielte hier das besondere Verhältnis der Japaner zum Wasser eine Rolle, dem Element, das ihr Land rings umgibt und ihr Leben in all seinen Aspekten prägt: als Nahrungsquelle, Beförderungsweg, Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt. Der andere Fernsehspot, der ebenfalls etwas typisch Japanisches zeigte und doch allgemein menschlich verstehbar war: Der Besuch des Kaiserpaares in einer der Notunterkünfte für Tsunami- und Atomunfall-Opfer. Die beiden alten Leute, wie sie sich, Kaiser und Kaiserin, etwas mühselig hinknieten, um mit den Betroffenen auf gleicher Augenhöhe zu sprechen! Nicht einfach menschliches Leid wurde dokumentiert (wie etwa bei dem Tsunami im Dezember 2004, der große Teile Südost-Asiens verwüstete), nein, eine fremde Kultur wurde nahegeholt.
Der andere Aspekt, auf den die westlichen Medien ihren Fokus richteten, war der Protest japanischer Staatsbürger gegenüber ihrer Regierung. Ein Protest, der zögernd begann. Eine Schlüsselszene: der Versuch eines jungen Mannes, der mit einem Megaphon in der Hand vor dem Hauptquartier der Tepco steht, der Betreiberfirma des Kernkraftwerkes Fukushima, und seine Landleute zu einer Protestaktion zu bewegen sucht. Er schreit, er erregt sich – mit wenig Erfolg. Etwa 100 Passanten hat er in ihren Alltagsroutinen aufhalten können – und das sei, wie er dem europäischen Berichterstatter versichert, „schon sehr viel für Japan“.
Protest, demonstrativer Protest, war – von Europa aus gesehen – überfällig! Die Verfilzung der Beziehungen zwischen atomarer Großtechnologie und der Regierung, die daraus erwachsende Korruption der politischen Parteien und des Regierungsapparat insgesamt! Die Skrupellosigkeit in der nachträglichen Verschleierung des miserablen Zustands der Anlagen!
Ich zitiere dazu den SPIEGEL (11, 2011, 132), der seinerseits den britischen Nuklearexperten Shaun Burnie zu Worte kommen lässt, der die Anlage Fukushima „mehrfach besichtigt“ hatte: „Block eins und zwei in Fukushima Daiichi sind Anfang der siebziger Jahre in Betrieb gegangen. (…) Sie stammen aus einer Zeit, als VW den Käfer baute, ohne Sicherheitsgurte, Airbags und Kopfstützen.“ Wie kann man gegen solche Missstände im eigenen Land nicht demonstrieren?!
Wie Sie wissen, hat die deutsche Bundeskanzlerin den Atom-Unfall in Japan zum Anlass genommen, im eigenen Land eine „Energiewende“ einzuleiten. Nun, ich persönlich bin ein Freund der erneuerbaren Energien, die politische Entscheidung Angela Merkels hat mich gefreut. Aber ihre argumentative Verknüpfung mit Japan hat mich nachdenklich gemacht. Ist das nun ein billiger Vorwand oder ist das schon wieder realistisch – realistisch, wenn der Bezugsrahmen der „Planet Erde“ ist?

2.2 Der „arabische Frühling“

In einer Bemerkung, die ich ebenfalls dem SPIEGEL entnehme, hat der israelische Präsident Schimon Peres den „arabischen Frühling“ einen „Weltfrühling“ genannt. Man kann vermuten, was er damit sagen will: Diese Ereignisse sind ein Lichtblick für die ganze Welt und daher auch für Israel. Wie kommt er zu dieser Einschätzung?
Auch ich zweifle nicht daran, dass dieser Frühling des Jahres 2011 ein welthistorisches Datum ist. Im Vorderen Orient ist ein Geschichtsabschnitt zu Ende gegangen.
In den letzten Jahrzehnten waren die arabisch-islamischen Gesellschaften in den Schatten der Aufmerksamkeit geraten – von dem dort geförderten Öl und der von dort ausgehenden Gefährdung Israels einmal abgesehen. Wenig, was einem dazu einfallen konnte. Patriarchat plus X, und was die Regierenden anging, hatte sich eine Riege von Alleinherrschern etabliert, die durch einen Militärputsch, durch ein mehr oder weniger usurpiertes Königtum oder als Exponenten einer Einheitspartei an die Macht gekommen waren. Ben Ali, Gaddafi, Mubarak, Assad waren Gestalten, die man als eine Art von black boxes zu tolerieren bereit war, solange ihr output eine gewisse Zuverlässigkeit behielt.
Im Rückblick gesehen, gehört auch der Angriff von Al-Qaida am 11. September 2000 auf die USA noch zu dieser Epoche. Was trieb die Täter an? Die Motivlage war diffus. Angeblich spielte die Tatsache, dass amerikanische Truppen in Saudi Arabien, dem Kernland des Islam, stationiert worden waren, eine Rolle – jedenfalls war der Überfall eine Kampfansage des militanten Islam an die ‚Ungläubigen’. Aber hatte er nicht auch etwas von später Rache des arabischen Kulturkreises für die Überwältigung durch den „Okzident“? Für die Kränkung, von der abendländischen Moderne in die Bedeutungslosigkeit gestoßen zu sein?
Der überzeugendste Versuch einer Deutung stammt von Dan Diner und kulminiert in einer kompakten These: Das Charakteristikum der arabisch-islamischen Welt heute bestehe in ihrer Abkopplung von „der Geschichte“. Weder nehme man, so Diner, an der Evolution der Moderne aktiv teil, noch werde die eigene religiöse Tradition auf die Bedingungen gegenwärtigen Lebens umgedacht – eine a-historische Deutung dominiere die Auslegung des Koran, verteidige das Patriarchat und verleugne die allgemeinen Menschenrechte. Eben diese Verfassung der arabischen Gesellschaften, die Politik-Abstinenz und die Herrschaft des Monotheistisch-Sakralen, führe unweigerlich zu einer abstrakten Radikalisierung. Diners Generalbefund: In der arabisch-islamisch Welt begegne uns eine besondere Zeitverfassung, die er bereits im Titel seines Buches benennt: Die Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Dan Diner 2005ff).
Dazu haben die Revolutionen in Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien und im Jemen einen neuen Horizont geliefert: Sie lassen den islamischen Radikalismus überlebt erscheinen. Ein liberaler arabischer Journalist, Dschamal Kaschoggi, hat diese Deutung in der Formel zusammengefasst: „Al Qaida wurde auf dem Tahrir-Platz in Kairo begraben.“ (DER SPIEGEl, 19, 2011, S. 94) Diese Deutungsmöglichkeit des „arabischen Frühlings“ hat in Europa, wie schon im Fall der Protestbewegung in Japan, zu einer Solidarisierung, ja Identifizierung mit den Aufständischen geführt.
Ich zitiere aus einem Beitrag des französischen Soziologen und Philosophen, Edgar Morin, Präsident der Agence européenne pour la culture und Präsident der Association pour la pensée complexe (Gesellschaft für komplexes Denken), in der Zeitung Le Monde vom 26. April 2011:
„Die ungestüme Erhebung, die von der jungen Generation ausgeht (…), hat uns in einer entschiedenen Weise gezeigt, dass das Streben nach Demokratie kein Monopol des Westens, sondern ein globales Streben ist (…) Daher der Ausruf, der mir bei einem unvergesslichen Treffen in Tunesien in den Sinn kam: `Les Arabes sont comme nous et nous sommes comme les Arabes (Die Araber sind wie wir, und wir sind wie die Araber)´, eingerechnet natürlich alle historischen und kulturellen Unterschiede.“ (Le Monde 26. April 2011, Seite 18) Den Schlüsselsatz des Interviews habe ich im französischen Urtext zitiert, um die Fanfare hörbar zu machen, in der das Jahr 1789 fortklingt.
Es blieb nicht bei einer ideologischen Identifikation. Der breite gesellschaftliche Konsens setzte sich in politisch-militärisches Handeln um. Dazu, dass Frankreich sich als erste Nation zu einem militärischen Eingreifen in Libyen entschloss und vor allen anderen handelte, hat der Journalist und Philosoph Bernard-Henri Levý beigetragen. Als einer der führenden französischen Intellektuellen hatte er – was wohl nur in Frankreich vorstellbar ist – „die Telefonnummer des Präsidenten“. Nach einem Gespräch mit Rebellenführern in Bengasi machte er davon Gebrauch. Was er Sarkozy über die Rebellenführer, ihre Ziele und seine Gesprächserfahrungen mit ihnen berichtete, hat dazu beigetragen, dass der französische Staatspräsident nun selbst einige von ihnen empfing. Offenbar ist auch er zu dem Ergebnis gekommen, dass man mit diesen Leuten ‚reden kann’ – besser jedenfalls als mit Gaddafi. Daraufhin starteten französische Kampfjets, um in Libyen einzugreifen.
Der stärkste Anreiz aber zur Identifikation ging von dem Geschehen auf dem Tahrir-Platz in Kairo aus. Was wir Europäer dort sahen und hörten, konnten wir verstehen. Wir konnten sehen, wer neben wem stand, wie enorm die Verschiedenheit, Buntheit, ja Heterogenität der Protestierenden war und wie konzertiert sie agierten. Männer und Frauen, Alte und Junge, Angehörige aller sozialen Schichten, Vertreter aller Berufe, mehr oder weniger religiös Motivierte, mehr oder weniger Gebildete usf. Was vereinte sie? Kein gemeinsames gesellschaftspolitisches Konzept, aber immerhin ein Minimalprogramm, zu dem sich alle bekannten: die Beseitigung eines Diktators und seines Machtapparats, der Anspruch auf die Individualrechte und eine gesicherte Mitbestimmung bei der künftigen Formung der Gesellschaft.
Der Verlauf der Aufstände in den einzelnen Staaten war verschieden, der Ausgang ungewiss. Welche politischen Kräfte würden sich in Tunesien schließlich durchsetzen? Würde sich in Libyen die Zersplitterung der Gesellschaft in Stämme überwinden lassen? Wie würde in Ägypten das Militär taktieren, und wie die Muslim-Brüder? Fast kein Kommentar, der nicht die Warnung vor „Radikalisierung“, „Zersplitterung“, „Unregierbarkeit“ und „Chaos“ einschloss. Aber das waren Warnungen vor der eigenen Euphorie. Sie änderten nichts an der Begeisterung über das, was sich an der nordafrikanischen Küste, am östlichen Rand des Mittelmeers und bis weit in den Vorderen Orient hinein vollzog.
Was war es, was in Europa diese Zustimmung auslöste? Die Erwartung auf politische Verschiebungen zu unseren eigenen Gunsten? Auf größere wirtschaftliche Vorteile? Auf Chancen für eine Mittelmeerunion, eine Lieblingsidee Sarkozys, deren Realisierung Europa und zuallererst Frankreich genützt hätte? Waren es also spätkoloniale, ‚egoistische’ Interessen, die unsere Zustimmung auslösten?
Ich meine, nicht. Es war etwas anderes. Aber was?

3 Die Lockerung der „Kulturkreise“

Meine Beobachtungen zur Entwicklung interkulturellen Beziehungen haben in die unmittelbare Gegenwart geführt. Daher ergeben sich auch meine Schlussfolgerungen nicht aus einer gesicherten Beobachter-Distanz. Was ich wahrnehme, nehme ich wahr als einer, der selbst betroffen ist – samt den Befürchtungen und Hoffnungen, die dazugehören. Meine Position ist zwar, wie gesagt, die eines Europäers, aber wie stark sind die Bindekräfte noch, von denen die sogenannten „Kulturkreise“ zusammengehalten werden? Schon die Einteilungen, die wir von Europa aus vornehmen, erscheinen fraglich. Kann man noch zwischen „Orient“ und „Okzident“ unterscheiden? Kann man beim Blick nach Osten noch auf das räumliche Schema „Naher“, „Mittlerer“ und „Ferner Osten“ zurückgreifen? Und wenn man in die Gegenrichtung blickt: Trennt sich nicht gerade ein „Naher“ von einem „Fernen Westen“? Und wie sieht die Einteilung aus, wenn man China oder Indien zum Bezugspunkt macht? Wer sind wir „Westler“ dann?
Kehren wir zu den optimistischen, ja euphorischen Erwartungen Europas zurück, die sich auf ein „anderes Japan“ und auf eine „Zeitenwende“ in den arabischen Staaten richten – sie sind nur die eine Seite der Medaille, deren andere Skepsis und Resignation heißt.
Den Hintergrund für beides bildet die Erfahrung, die jeder Beobachter der Welt-Politik in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten machen konnte: das notorische, ja fast schon mit Routine vollzogene Scheitern der Verständigung bei Themen von globaler Dimension: „Deregulierung der Finanzmärkte“, „Energie-Krise“, „Umweltverbrauch“, „Klimawandel“, „die Arm-Reich-Problematik“. Es kommt zwar fortwährend und an den verschiedensten Orten zu Verhandlungen, mal im kleinen Rahmen (die Runde der G7, die der G20), mal im sehr großen (die Welt-Klima-Konferenz mit ihren 193 Mitgliedern), aber die Schwierigkeit der Verständigung beginnt oft schon da, dass keine Einigkeit darüber besteht, was das Problem und was die mögliche Lösung ist – und ob es überhaupt ein Problem gibt. Sicher, gut verstanden haben sich Menschen, wenn ihre Interessen kollidierten, noch nie. Das hat Vorteile: Solange man den anderen nicht „versteht“, braucht man nicht einzulenken, aber, solange man sich taub stellt, braucht man auch noch nicht zuzuschlagen. Das Unvergleichliche aber der heutigen Situation besteht darin, dass die strittigen Fragen globale Relevanz haben und dass ihre Bearbeitung – eben ihrer allseitigen Vernetzung wegen – unter einem geschichtlich neuartigen Zeitdruck steht.
Nehmen wir das Thema „Klimawandel“ und die Geschichte der „Welt-Klima-Konferenz“ als Exemplum.
Strittig ist immer noch, ob es so etwas wie ‚Klimawandel’ überhaupt gibt. Und wenn ja, ob wir Menschen etwas damit zu tun haben? Wenn nein, besteht ohnehin kein Handlungsbedarf. Wenn ja, dann teilt die Argumentation sich noch einmal: Geht man davon aus, dass die Welt Schöpfung ist, ergeben sich andere Perspektiven und Präferenzen als bei der Annahme, dass der Mensch Ergebnis und Bestandteil von Evolution ist. Auf wen ein ‚Paradies’ wartet, mit welchem Inventar auch immer, für den ist ein Kollaps der Menschheit keine Katastrophe, vielleicht sogar Strafgericht Gottes. Sicher, man kann sich auch für die „Schöpfung“ persönlich verantwortlich fühlen, man hat dann sogar einen starken Partner, Gott selbst, und eben das fühlt sich anders an als die beklemmende Einsicht, dass das Schicksal der Menschheit sich auf einem Planeten entscheidet, der nun endgültig erschlossen ist und den alle gemeinsam haben.
Immerhin, es gab einen Einstieg in den säkularen Aspekt der Problematik, das Kyoto-Protokoll von 1997, das den globalen Willen zur Einschränkung der Treibhaus-Emissionen feststellte und dem – mit Ausnahme von zweien – alle Staaten beigetreten sind, die den Vereinten Nationen angehören. Es gab Folgekonferenzen 2007 auf Bali, 2009 in Kopenhagen und 2012 in Katar. Seitdem ist, von freiwilligen Verpflichtungen einzelner Staaten und Staatengruppen abgesehen, immer nur beschlossen worden, dass man weiter verhandeln wolle. Die Weigerung von Schwellenländern wie China und Indien, ihre Emissionen zu begrenzen, bezieht sich auf säkulare Weltgeschichte: Gegenüber den ehemaligen Kolonialmächten, den heutigen hochentwickelten Industrienationen, hätten sie ein Recht auf Nachholung des bisher versäumten „Fortschritts“. Die Gesellschaften, die bisher unter dem Begriff des „westlichen Kulturkreises“ zusammenfassbar waren, haben sich in ihren soziologischen und wirtschaftspolitischen Konzepten und Zielen von einander entfernt – der sogenannte „Westen“ findet daher auch in der Menschheits-Frage des Klimawandels nicht zusammen, ja die Differenzen, die in Doha zutage getreten sind, erscheinen größer denn je.

Hierin liegt, meiner Beobachtung nach, der tiefste Grund für die Verunsicherung, Nervosität und Reizbarkeit vieler Europäer globalen Problemen gegenüber – und für die geradezu zwanghafte, jedenfalls übereifrige und oft überstürzte Suche nach potentiellen Kooperationspartnern.
Ein letzter Blickschwenk:
In Ägypten haben inzwischen die Muslim-Brüder die politische Herrschaft übernommen. Nach einer kurzen Phase scheinbarer Liberalität haben sie ein fundamentalistisches Verfassungsdokument durchgesetzt – gegen den Widerstand all der Ägypter, mit deren Zielen Europa sich identifiziert hat. Dagegen steht, schroff abgegrenzt, die Selbstbegründung der Fundamentalisten: Ihr Rückgang auf eine absolute, metaphysisch fundierte, Religionstradition, ihr Beharren auf einer a-historischen Auslegung des Koran, die Verlagerung der letzten juristischen Entscheidungsmacht in eine religiöse Institution.
Keine Frage, für welche Seite die europäische Öffentlichkeit Partei genommen hat. Aber die Befriedigung, die aus dieser Parteinahme erwächst, ist mager geworden. Es kann noch lange dauern, bis Ägypten ein Mitspieler ist, der international Verantwortung übernehmen kann.
Und die Welt-Fragen, die jetzt zur Verhandlung anstehen, sind – der Prognostik der zuständigen Wissenschaften nach – nicht gut aufschiebbar.